Die Mönche von Saint-Denis

Das Königskloster Saint-Denis

Nach seiner körperlichen Verletzung, nach seinem beruflichen Absturz ließ sich Abaelard in einer Art inneren Umkehr im Jahre 1119 als Mönch im Königskloster Saint-Denis bei Paris aufnehmen.

Keine der monastischen Lebensformen, die einer Überzeugung oder einem Bedürfnis Abaelards entsprochen hätte, hatte er gewählt. Er entschied sich für das räumlich nächstliegende Kloster, aber damit für das ihm innerlich entfernteste. Saint-Denis war kein beliebiges Kloster, sondern das Kloster Frankreichs: Ort der geistig-politischen Kräfte der aufstrebenden Monarchie, Kristallisationspunkt der französischen Nationalidee, Ursprungsort des Stils der neuen französischen Verbindung von Kirche und Königtum, der gotischen Kathedrale. Im Jahre 475 war die erste Kirche entstanden. König Dagobert I., 623-639, ließ im Jahre 630 eine neue erbauen und siedelte dort Mönche an. Er wurde in Saint-Denis beigesetzt. Seitdem war dieses Kloster die Grablege der französischen Könige. Karl Martel, Pippin der Jüngere, Karl der Kahle und Hugo Capet waren dort begraben. Paris als Residenz des französischen Königs und Saint-Denis als Grabstätte des französischen Nationalheiligen wuchsen zu einer geistig-politischen Einheit zusammen. Saint-Denis war nicht nur ein feudales Reichskloster mit einer Struktur aus der Zeit vor der Reform Clunys und des Investiturstreits, sondern das Eigenkloster des französischen Königs. Es war Archiv des Reiches, Stätte der offiziellen Geschichtsschreibung und in gewisser Weise die Kanzlei des Königs. Der König und die Großen des Reiches gingen aus und ein. Der Abt des Klosters gehörte dem königlichen Rat an, und häufig wird dieser in Saint-Denis zusammengetreten sein.

Doch all dies berührte Abaelard bei seinem Eintritt wenig. Vermutlich suchte er einfach die räumliche Nähe zu Heloïsa, die in Argenteuil, nur einige Kilometer entfernt, untergebracht war. Entgegen der öffentlichen Meinung fällte er bald ein ganz vernichtendes Urteil über Saint-Denis:

In dem Kloster, in das ich eingetreten war, herrschte zu jener Zeit ein überaus weltliches, sittenloses Leben. Je höher der Abt selbst seinem Range nach über den andern stand, desto schlimmer und berüchtigter war sein Lebenswandel... Abaelard, Historia Calamitatum

Abt Adam von Saint-Denis

Der Abt, von dem hier die Rede ist, war Abt Adam von Saint-Denis. Der Nachfolger Adams, Abt Suger, hob in seiner Lebensbeschreibung König Ludwigs des Dicken hervor, dass er gleich nach seinem Amtsantritt ohne jedes Aufsehen und ohne Beunruhigung des Konvents das Kloster reformiert habe. Abt Adam hatte eine schlampige Verwaltung des Klostervermögens einreissen lassen.
Da ich nun die unerträgliche Sittenlosigkeit der Mönche teils im vertrauten Kreis, teils öffentlich mehrmals auf das Nachdrücklichste rügte, so machte ich mich ihnen allen überaus unbequem und verhasst. Über den täglichen Andrang meiner Schüler höchst erfreut, fanden sie dadurch Gelegenheit, sich meiner zu entledigen. Da nun jene mir unaufhörlich zusetzten und zudringlich bei mir anklopften, auch der Abt und die Brüder sich einmischten, zog ich mich in eine Einsiedelei zurück, um meine gewohnte Lehrtätigkeit wiederaufzunehmen. Hier strömte nun eine solche Menge von Schülern zusammen, dass weder der Raum für Quartiere noch das Land für Nahrungsmittel ausreichte... Abaelard, Historia Calamitatum
Der Überlieferung nach handelte es sich um ein kleines Priorat in Maisoncelles-en-Brie, wo Abaelard bis zu seiner Verurteilung auf dem Konzil von Soissons im Jahre 1121 weilte, sein berühmtes Werk Theologia Summi Boni verfasste und erneut reichlichen Zulauf von Schülern erhielt.

Entgültig zog sich Abaelard die Missgunst seines Abtes zu, als er - vor allem verfolgt durch Alberich und Lotulf von Reims - nach der Verurteilung auf dem Konzil von Soissons und kurzer Klosterhaft in Saint-Médard in sein Mutterkloster zurückgeschickt wurde. Denn schon nach kurzer Zeit entstand erneut schwerer Streit mit den Klosterbrüdern. Abaelard hatte in ein Wespennest gestochen: Nach kritischem Quellenstudium hatte er die Berechtigung von Saint-Denis in Frage gestellt, aufgrund seiner Tradition den ersten Rang unter den Klöstern Franziens einzunehmen:

Es vergingen nur wenige Monate, da bot das Schicksal ihnen eine geschickte Gelegenheit, mich zu verderben. Eines Tages begegnete mir nämlich beim Lesen zufällig ein Satz in Bedas Auslegung der Apostelgeschichte, in dem er behauptete, dass Dionysius Areopagita nicht Bischof von Athen, sondern von Korinth gewesen sei. Dies schien denen sehr befremdlich, die in dem Schutzpatron ihres Klosters eben jenen Dionysius Areopagita verehren, dessen Lebensgeschichte angibt, dass er Bischof von Athen gewesen sei. Als ich das herausgefunden hatte, zeigte ich einigen der umherstehenden Brüder halb im Scherz jenes Zeugnis des Beda, das gegen uns sprach. Sie aber erklärten höchst entrüstet den Beda für einen ganz verlogenen Schreiberling und beriefen sich auf ihren Abt Hilduin als auf einen zuverlässigeren Zeugen, der, um dies zu erforschen, Griechenland lange durchstreift und - da die Wahrheit der Sache anerkannt war - in einer Lebensgeschichte jenes Mannes, die er niederschrieb, diesen Zweifel vollkommen behoben habe. Einer der Umstehenden drang mit der misslichen Frage in mich, wem ich in diesem Streite recht gebe, dem Beda oder dem Hilduin. Ich antwortete, das Zeugnis des Beda, dessen Schriften in der ganzen abendländischen Kirche in Ansehen stünden, scheine mir gewichtiger zu sein. Als die Mönche das vernahmen, begannen sie höchst aufgebracht zu schreien: nun habe ich deutlich offenbart, dass ich von jeher unser Kloster angefeindet und dass ich nun besonders das ganze Land herabgesetzt hätte, indem ich es des Ruhmestitels beraube, dessen es sich vorzüglich rühme, da ich leugne, dass Dionysius Areopagita ihr Schutzpatron sei. Ich erwiderte, das leugne ich ja gar nicht, und überdies solle man sich nicht viel darum sorgen, ob ihr Schutzpatron wirklich der Areopagite gewesen sei oder ein Mann von anderer Herkunft, da er doch jedenfalls bei Gott eine solche Ehrenkrone erlangt habe. Sie aber liefen zum Abt und zeigten ihm an, was sie mir zur Last legten... Abaelard, Historia Calamitatum
Abt Adam stellte Abaelard sofort unter Hausarrest und tadelte ihn öffentlich:
Dieser hörte es gern und freute sich über die Gelegenheit, mich einmal demütigen zu können; denn da er ein sittenloseres Leben führte als alle übrigen, so fürchtete er sich vor mir um so mehr. Vor versammeltem Konvent - auch die Brüder wurden gerufen - drohte er mir schwer und sagte, er wolle mich unverzüglich vor den König schicken, damit er eine Strafe über mich verhänge, als ob ich den Ruhm und die Ehre seines Königreichs antaste. Inzwischen, bis er mich dem König vorführen wollte, ließ er mich streng beaufsichtigen. Vergebens erklärte ich mich bereit, eine Buße nach der Ordensregel auf mich zu nehmen, falls ich etwas verbrochen hätte. Da erschauerte ich tief vor der Schlechtigkeit dieser Menschen, und da ich schon lange ein so feindseliges Schicksal ertragen hatte, war ich völlig verzweifelt, als ob sich die ganze Welt gegen mich verschworen hätte... Abaelard, Historia Calamitatum
Abaelard entzog sich der demütigenden Situation durch Flucht zum Grafen Theobald der Champagne, der ihn in einer Klause in Provins aufnahm:
So entwich ich denn mit dem Einverständnis einiger Brüder, die Mitleid mit mir hatten, und unter Beihilfe einiger meiner Schüler heimlich bei Nacht und flüchtete in das angrenzende Gebiet des Grafen Theobald, wo ich früher in einer Einsiedelei gelebt hatte. Der Graf selbst war mir nicht ganz unbekannt; auch hatte er an meinen Demütigungen, von denen er hörte, sehr mitgelitten. Ich hielt mich zunächst bei dem Schloss Provins auf, in einer Klause der Mönche von Troyes, deren Prior mir bereits vorher befreundet gewesen war und mich liebgewonnen hatte. Dieser war über meine Ankunft sehr erfreut und sorgte für mich auf die liebenswürdigste Weise... Abaelard, Historia Calamitatum
Graf Theobald nahm in Kürze Verhandlungen mit Abt Adam auf, die jedoch unfruchtbar verliefen:
Es kam mein Abt in geschäftlichen Angelegenheiten zum Grafen auf das Schloss. Als ich dies erfuhr, ging ich mit dem Prior ebenfalls zum Grafen und bat ihn, er möchte sich bei meinem Abt für mich verwenden, dass er mich losspreche und mir die Erlaubnis gebe, als Mönch zu leben, wo ich einen passenden Ort fände. Der Abt und seine Begleiter zogen die Sache in Erwägung und wollten dem Grafen noch am gleichen Tage antworten, bevor sie heimkehrten. Als sie nun ihre Erwägung anstellten, bildeten sie sich ein, ich wolle in ein anderes Kloster eintreten, was eine unermessliche Schande für sie gewesen wäre. Denn als ein gewaltiges Ruhmesblatt rechneten sie sich an, dass ich mich gerade in ihr Kloster zurückgezogen hatte, als ob deswegen alle übrigen Klöster verachtet wären, und jetzt, sagten sie, drohe ihnen gewaltige Schmach, wenn ich sie verschmähte und zu anderen überliefe. Deshalb hörten sie weder mich noch den Grafen in dieser Sache an, sondern drohten mir gleich, mich zu exkommunizieren, falls ich nicht unverzüglich zurückkehre...
Die Lage war für Abaelard prekär geworden, als eine Fügung des Schicksals ihm zu Hilfe kam. Wenige Tage nach der nutzlosen Verhandlung im Jahre 1122 starb plötzlich und unerwartet Abt Adam; als Nachfolger wurde Abt Suger gewählt.

Abt Suger von Saint-Denis

Suger stammte aus einfachen Verhältnissen aus der Gegend von Saint-Omer. Er war schon mit neun oder zehn Jahren als Oblate in das berühmte Kloster Saint-Denis gekommen. Der junge Mann hatte in der Klosterschule zusammen mit dem künftigen König Ludwig VI. studiert, dessen Freund er wurde. Abt Adam hatte den organisatorisch geschickten, politisch begabten Suger schon bald zu manchen Aufgaben herangezogen. Kurz nach seiner Wahl zum Abt kam es erneut zu Verhandlungen wegen Abaelards weiterem Schicksal; diesmal aber setzte sich für Abaelard ein am Hofe des Königs einflussreicher Mann ein: Stephan von Garlande, der vormalige Seneschall des Königs.
Als sein Nachfolger eingesetzt war, ging ich mit dem Bischof von Meaux zu ihm, er möchte mir gewähren, was ich schon von seinem Vorgänger erbeten habe. Als auch er zuerst nicht recht auf die Sache eingehen wollte, gewann ich durch Vermittlung einiger Freunde den König und seinen Rat dafür und erreichte so, was ich wollte. Der damalige Seneschall des Königs, Stephanus, nahm den Abt und dessen Vertraute beiseite und fragte sie, warum sie mich gegen meinen Willen zurückhalten wollten; sie könnten dadurch leicht in einen Skandal geraten und hätten jedenfalls wenig Nutzen davon, da meine Lebensweise und die ihrige nun einmal nicht zusammenpasse. Ich wusste aber, dass im königlichen Rat die Meinung dahin ging, dass, je weniger regelgetreu jenes Kloster sei, es um so mehr dem König ergeben sei und nützlich für weltliche Gewinne. Darum glaubte ich auch, die Zustimmung des Königs und seiner Räte erlangen zu können. Und wirklich, es gelang mir. Damit aber unser Kloster den Ruhm, den es an mir hatte, nicht verlöre, gestanden sie mir zu, in eine einsame Gegend überzusiedeln, wohin ich wollte, wenn ich mich nur keinem Kloster unterordnete. Dies wurde in Gegenwart des Königs und seiner Räte von beiden Seiten gutgeheissen und bekräftigt... Abaelard, Historia Calamitatum
Abaelard erhielt schließlich die Erlaubnis, sich ohne Entlassung aus dem Klosterverband als Einsiedlermönch an einem Ort seiner Wahl niederzulassen:
So begab ich mich in eine einsame Gegend im Gebiet von Troyes, die mir von früher bekannt war. Dort wurde mir von einigen Leuten ein Stück Land zur Verfügung gestellt, und mit Genehmigung des Bischofs erbaute ich dort nur aus Binsen und Stroh eine Kapelle im Namen der heiligen Dreifaltigkeit... Abaelard, Historia Calamitatum
Die Zugehörigkeit Abaelards zum Kloster Saint-Denis endete somit de facto im Jahre 1123, vermutlich jedoch nicht de jure.

Der weitere  Lebensweg von Abt Suger  verlief glänzend:

Zunächst suchte er entfremdete Besitzungen seiner Abtei zurück zu gewinnen und das Ansehen seines Klosters zu heben, wobei ihm seine Beziehungen zur französischen Hocharistokratie zu Gute kamen. Im Jahre 1129 vertrieb Abt Suger unter einem Vorwand, aber mit Zustimmung des Papstes, die Nonnen von Argenteuil, darunter Heloïsa mit einigen Getreuen; Abaelard nahm sie kurze Zeit später in seinem Besitz am Ardusson auf...

Suger wurde Berater und Freund König Ludwigs VI., des Dicken, 1108-1137. Im Jahre 1124 entfaltete der Abt gegen einen deutschen Einfall in Frankreich die in seiner Abtei aufbewahrte Oriflamme, die Kriegsfahne Frankreichs, die zum Sinnbild nationaler Begeisterung wurde. Im Jahre 1127 beseitigte er die in seinem Kloster eingerissene Verweltlichung. In den ersten Jahren der Regierung König Ludwigs VII., 1137-1180, hielt sich Suger vom Hof fern. Er konzentrierte sich auf seine Abtei. Geschickte Wirtschaftsführung und herabgesetzter Eigenverbrauch verschafften ihm die Mittel zum Neubau seiner Klosterkirche, die das erste gotische Bauwerk Frankreichs werden sollte. In Sugers Bau wurden die konstituierenden Elemente des neuen Stils zum ersten Mal zu einem Ganzen zusammengefasst. Epoche machte besonders die konsequente Durchführung des Kreuzrippengewölbes und des Spitzbogens. Suger war bei alledem der spiritus rector: Der Baumeister unbekannten Namens richtete sich nach ihm. Suger, selbst kein Architekt, sondern Bauherr, gab damit der Bauentwicklung entscheidende Impulse, die er in zwei Büchern festgehielt: Libellus de conservatione ecclesiae S. Dionysii und De rebus in administrationem sua gestis. Seine Anschauungen wurden vorwiegend durch die Schriften des Pseudo-Dionysius geprägt, durch den in der Architektur eine Symbolsprache Eingang fand. Suger versuchte, mit Saint-Denis und den programmatischen Inhalten der Kirche den Staat Gottes auf Erden zu verwirklichen. In den Jahren 1136 bis 1140 entstanden die Fassade und die ersten Joche des Hauptschiffes, im Jahre 1144 wurden Chor und Krypta fertiggestellt. Der Chor erhielt einen Umgang mit Kapellenkranz. Die Glasfenster soll Suger selbst konzipiert haben, wobei er Gedanken des Heiligen Augustinus verarbeitete. In einem Fenster erschien sogar das Bild des kunstliebenden Abtes. In der Hand hält er ein reich mit einer dreimal wiederholten Figur und Ranken geschmücktes Fenster. Im Rahmen einer glänzenden Versammlung geistlicher und weltlicher Fürsten wurde am 11.Juni 1144 der Chor geweiht.

Im Jahre 1144 wurde Suger an den Königshof zurückgerufen. Er beriet fortan König Ludwig VII. Der vernünftige Abt wandte sich gegen den Zweiten Kreuzzug. Aber er übernahm dann auf Vorschlag des Heiligen Bernhard während der Kreuzfahrt König Ludwigs VII. im Jahre 1147 die Verwaltung des Königreiches. Er ordnete bei dieser Gelegenheit die königlichen Finanzen neu und setzte sich für den inneren Frieden während der Abwesenheit des Herrschers ein. Da er die Verwaltung so gut bewältigt hatte, erhielt er den Ehrennamen Vater des Vaterlandes und durfte auch nach der Heimkehr des Königs wesentliche Staatsgeschäfte fortführen. Natürlich brachte sein staatliches Wirken auch Nutzen für seine Abtei. Und umgekehrt: Was gut für seine Abtei war, war auch gut für das Königreich Frankreich. Ob der Abt ein falsches Karlsprivileg herstellte, das Saint-Denis zur Mutterkirche des Reiches und zur einzigen Krönungsstätte machte und seinen Abt zum Primas aller französischen Prälaten, bleibt fraglich. Immerhin war Suger im Jahre 1131 Sprecher des französischen Königs und des gesamten Episkopates beim Besuch des Papstes Innozenz II. in Cluny. Suger, der Propagator der französischen Königsideologie, der Abt und Kunstfreund, starb am 13.Januar 1151 in Saint-Denis.


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