Wilhelm von Saint-Thierry

Wilhelm war Theologe und Mystiker; mit Beinamen wurde er nach dem Kloster benannt, in dem er lange Zeit lebte - Saint-Thierry bei Reims. Wilhelm war um 1085 bei Lüttich geboren worden. Er stammte aus dem Adel und studierte im Benediktinerkloster Saint-Nicaise in Reims - zusammen mit seinem Bruder Simon. Hier schlugen beide die religiöse Laufbahn ein und stiegen schließlich bis zur Abtwürde auf: Simon in Saint-Nicolas-aux-Bois in der Diözese Laon und Wilhelm in Saint-Thierry bei Reims im Jahre 1119. Schon vorher hatte Wilhelm Bernhard von Clairvaux kennengelernt und war mit ihm eine enge Beziehung eingegangen, die ein Leben lang anhielt. Sein größter Wunsch war, mit dem Heiligen in Clairvaux zu leben, aber letzterer missbilligte den Plan und verpflichtete ihn, bei den Seelen zu bleiben, die die Heilige Vorhersehung ihm anvertraut hatte. Im Jahre 1135 gestattete Erzbischof Rainald von Reims dem Abt, sein Amt niederzulegen und sich als einfacher Mönch in Signy, einer zisterziensischen Neugründung, zurückzuziehen. Er wagte nicht, seinen Lebensabend in Clairvaux zu verbringen, um nicht die Missbilligung seiner Abdankung durch den Heiligen Bernhard zu erleben. In Signy verbrachte er seine Zeit unter ständigem Leiden zwischen Gebet und Studium. Nach einer zeitgenössischen Quelle starb er zur Zeit des Konzils, das in Reims unter Papst Eugen abgehalten wurde. Dieses Konzil fand im Jahre 1148 statt. Das Nekrologium seiner Abtei datiert den Tod auf den 8. September. Auf jeden Fall starb er vor Bernhard von Clairvaux (+ 20. August 1153).

Bernhard von Clairvaux und sein Biograph Wilhelm von Saint-Thierry; Cod. Zwetl. - Zisterzienserstift ZwettlNeben seine Briefen an Bernhard schrieb Wilhelm von Saint-Thierry mehrere Werke, die er selbst etwas ungenau in einem seiner Briefe aufzählte. Darunter sind De Vita Solitaria und De Deo Contemplando – beide Schriften sind verfasst im Geiste der Confessiones und Soliloquia des Heiligen Augustinus. Ausserdem De Natura et Dignitate Amoris - entsprechend desselbigen Schriften Speculum Fidei und Aenigma Fidei. Weiterhin schrieb er De Sacramento Altaris Liber - eine Stellungnahme gegen den Mönch Rupert über die Anwesenheit Christi in der Eucharistie -, sodann Kommentare über das Lied der Lieder, - einen ersten gemäß den Stellungnahmen Bernhards, einen zweiten gemäß dem Heiligen Ambrosius, einen dritten nach Gregor dem Großen, schliesslich einen Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Römer. Weitere Werke sind: Über die Irrtümer des Wilhelm von Conches - De Erroribus Guillelmi de Conchis -, eine Verteidigungsschrift der Trinitätslehre, ausserdem eine Vita der Heiligen Bernhards, die unvollendet blieb, d.h. Wilhelm schrieb nur noch die ersten Kapitel.

Wilhelms Gesamtwerk wurde erstmalig von Tissier in der Bibliotheca Cisterciensis, Bonofonte, 1669, gedruckt, dann in der Patrologia Latina Band 130, Paris, 1885, wiederveröffentlicht.

Wilhelm von Saint-Thierry war auch der erste, der sich mit den Irrtümern Abaelards beschäftigte und den Heiligen Bernhard drängte, dagegen vorzugehen. Er schrieb um 1140 den Disput gegen Abaelard - Disputatio adversus Petrum Abelardum -, in welchem 13 Irrtumsthesen aufgeführt sind, die auf dem Konzil von Sens verurteilt wurden. Der Disput der Väter gegen die Lehre Abaelards - Disputatio catholicorum Patrum adversus Dogmata Petri Abelardi - war eine Antwort auf Abaelards Rechtfertigung und wurde bisweilen Wilhelm zugeschrieben. Sehr viel wahrscheinlicher stammte er jedoch aus der Feder des ehemaligen Abtes von Morigny, Thomas.

Wilhelm von Saint-Thierry hatte übrigens den Lebensweg Abaelards aus zunehmender innerer Distanz heraus verfolgt. Schon auf den Konzil von Soissons war er als Beobachter der Kirchenorthodoxie anwesend gewesen.

Nach seiner Rückkehr von Saint-Gildas nach Paris war Abaelard berühmter denn je. Seine alten Widersacher, Anselm von Laon und Wilhelm von Champeaux, waren gestorben, ihre Schüler zum Teil in hohe Kirchenämter aufgestiegen: Alberich von Reims war Erzbischof in Bourges, Gilbert von Auxerre in London, Joscelin von Vierzy in Soissons oder Walter von Mortagne später in Laon. Als Abaelards früherer Freund und Schüler Wilhelm von Saint-Thierry bestürzt feststellte, welche Lehren im Umkreis von Abaelard entstanden waren, die ihre Wellen bis nach Rom schlugen, schrieb er in einem Brief an Bernhard von Clairvaux:

Gestorben sind freilich in der Kirche fast alle Magister der kirchlichen Lehre. Wie in das unbesetzte Gemeinwesen der Kirche - vacua res publica ecclesiae - ist der Feind als Hausherr eingedrungen und hat in ihm ein einzigartiges Lehramt - singulare magisterium - an sich gerissen. Er betreibt auf dem Felde der Heiligen Schrift, was er auf dem Felde der Dialektik zu betreiben pflegt: eigene Erfindungen, kurzlebige Neuheiten...
Hugo Metellus aus Toul, jener Hugo, der sich später bei Heloïsa einzuschmeicheln versuchte, schrieb fast zeitgleich ebenfalls einen Brief gegen Abaelard an Papst Innozenz II.: Draußen, in der Welt, wehe ein Geist, der den Mönchen immer unverständlicher werde, immer fremder, unheiliger. Die Lehre Abaelards und die Lehrweise an den neuen Schulen verbreiteten sich. Irgendwann vor 1140 fanden zwei Codices den Weg in das Kloster Signy, in das sich Wilhelm zurückgezogen hatte. Theologia hieß das erstere, sein Verfasser Abaelard. Das andere Buch, die Sentenzen, schrieb er irrtümlicherweise Abaelard zu. Es stammte vermutlich von einem Schüler desselben. Der Inhalt der beiden Werke versetze Wilhelm in äußerste Unruhe. Die Auseinandersetzung zwischen den Neuerern und dem orthodoxen, an Veränderungen uninteressierten Klerus wurde unausweichlich. Wilhelm schrieb Anfang des Jahres 1140 oder 1141 an Bischof Gottfried von Chartres und an seinen Freund Bernhard von Clairvaux:
Petrus Abaelard lehrt wieder Neuheiten, schreibt wieder Neuheiten, seine Bücher überqueren die Meere, überspringen die Alpen, und seine neuen Glaubenslehren und seine neuen Glaubenssätze verbreiten sich durch Provinzen und Königreiche, werden öffentlich verkündet und frei verteidigt und selbst an der römischen Kurie genießen sie Ansehen... Die befremdlichen Neuigkeiten der Worte in Glaubensdingen haben mich verstört, und die neuen Erfindungen unerhörter Bedeutungen. Da ich sonst niemanden habe, an den ich mich wenden kann, wende ich mich an Euch in der Sache, dem Streitfall - causa - Gottes, und ich rufe die ganze lateinische Kirche zum Gericht auf... Wilhelm an Bernhard von Clairvaux
Seine frühere Freundschaft zu Abaelard bekannte er:
Ich habe ihn geliebt, und ich wünsche auch jetzt - Gott ist mein Zeuge -, ihn zu lieben. Aber in diesem Streit ist niemand mir Nächster, niemand Freund.
Wilhelm verfasste eine Anklageschrift gegen Abaelard und führte in dem Schreiben 13 Anklagepunkte auf. Er warf Abaelard vor, er habe gelehrt, Gott Vater sei unbegrenzt mächtig, der Sohn jedoch nur begrenzt und der Heilige Geist in keiner Weise, der Heilige Geist sei die Weltseele, Christus sei nicht Fleisch geworden, Sünde könne nur mit innerer Zustimmung und aus Verachtung Gottes geschehen und Begierde und Lust seien keine Sünde.

Wie Bischof Gottfried, der in Soissons Abaelard noch verteidigt hatte, auf den Brief Wilhelms reagierte, ist unbekannt. Bei dem Konzil in Sens war er jedoch anwesend, doch von einem Eintreten für Abaelard erfahren wir nichts. Als päpstlicher Legat erhob er sich wohl nicht gegen Bernhard von Clairvaux, den einflussreichsten Mann hinter dem Papst. Darüber mehr an anderer Stelle.


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