Der Konzilstag von Sens

Auszug aus A. Podlech: Abaelard und Heloisa, München 1990, Seite 360ff.

Die folgenden Auszüge aus Podlechs Abaelard-Biographie fußen auf der traditionellen Datierung des Konzils von Sens in das Jahr 1140. Dies tut der Qualität der Darstellung keinen Abbruch. Der habilitierte Jurist Podlech kommentiert mit fachlicher Kompetenz die Besonderheiten und Implikationen des Prozessverlaufs. Ganz vereinzelt finden sich Anmerkungen unsererseits (in eckigen Klammern), wenn sie auf Grund jüngerer Forschungsergebnisse sinnvoll erschienen. Auf die Wiedergabe der Kapitelüberschriften haben wir verzichtet. Zur Datierung des Konzils von Sens siehe auch an andere Stelle innerhalb dieser Seiten.

Der Tag der Entscheidung kam. Die Reliquien waren ausgestellt, die Pilger und die Händler strömten herbei und die Mönche aus den umliegenden Klöstern. Die Großen des Reiches erwiesen den Heiligen ihre Ehre: König Ludwig und sein Hof, die Grafen Theobald von Troyes und Wilhelm von Nevers. Der Erzbischof Heinrich Sanglier hatte zum Konzil oder zur Synode geladen, und so waren alle seine Suffraganbischöfe erschienen außer den Bischöfen von Paris, Stephan von Senlis, und von Nevers, Fromond. Erschienen war auch der Erzbischof von Reims, Samson, mit den Suffraganen Joscelin von Soissons, Gottfried von Châlons und einem weiteren uns unbekannten Bischof. Dazu waren, wie bei solchen Gelegenheiten üblich, zahlreiche Äbte erschienen, unter ihnen der frühere Abt Abaelards, Suger von Saint-Denis. Bernhard hebt in seinem persönlichen Bericht an den Papst noch hervor, dass aus den Bischofsstädten die Leiter der Domschulen erschienen waren und außerdem zahlreiche andere Gelehrte  - clerici litterati. Eine "glänzende Gemeinde - ecclesia copiosa" war zusammengekommen, wie der Chronist berichtet. Ja, und dann war da noch die Gegenseite, "der Magister Petrus Abaelard mit seinen fautores", den Gönnern, Beschützern oder Beifallklatschern, wie die Bischöfe an den Papst schreiben, oder mit seinen "Komplizen", wie Bernhard es ausdrückt. Der Kampf um Worte hat schon immer stattgefunden. Wer über die Worte bestimmt, hat fast schon gesiegt. Am Morgen des Oktavtages von Pfingsten - heute wird kirchlich an diesem Sonntag das Dreifaltigkeitsfest gefeiert, Trinitatis, im Jahre 1140 fiel dieser Oktavtag auf den 2. Juni [25. Mai 1141] - predigte Bernhard von Clairvaux in der Kathedrale und "forderte das Volk auf, für Abaelard bei Gott zu beten". Abaelards Schüler Berengar von Poitiers, der uns die Vorgänge satirisch übersteigert erzählt, fügt Bernhard anklagend hinzu, "innerlich bereitest Du aber alles vor, ihn aus dem christlichen Weltkreis auszulöschen". Abends versammelte Bernhard die Bischöfe um sich - zur Vorbereitung der ersten Sitzung des Konzils am anderen Tag, wie wahrscheinlich die harmlose Einladung hieß, in Wirklichkeit, um dem Prozess, der Bernhard entglitten war, die entscheidende Wendung zu geben. Über das, was wirklich geschah, schweigen die Quellen. Bernhard und die Seinen hatten allen Grund, das Treffen herunterzuspielen. Bernhard erwähnt es in seinem Bericht an den Papst überhaupt nicht, der Bericht der Bischöfe der Kirchenprovinz Sens kommt aus Rechtsgründen nicht umhin, es indirekt zuzugeben. Berengar von Poitiers hat einen langen, bissigen Bericht gegeben, aber aus dieser Satire die Tatsachen herauszulösen fällt schwer. Er sagt mehr aus über die Erlebnisbreite damaliger Menschen als über Abaelards Prozess. Daher finden sich Auszüge aus ihm in den Anmerkungen, nicht hier in der Schilderung des Fortgangs. Es bleibt uns nur, anhand der beteiligten Personen und ihrer Einstellungen und den rechtlichen Wirkungen, die das Treffen hatte, auf seinen Ablauf zu schließen.

Bernhard erreichte es, dass sich die Bischöfe zu diesem Zeitpunkt mit seinen Anklagepunkten gegen Abaelard, einer der Fassungen seiner Irrtumsliste, befassten. Es ist zu vermuten, und die Vermutung wird durch den Bericht Bernhards an den Papst bestärkt, dass der Subdiakon Hyazinth, der eigens zur Verteidigung Abaelards aus Rom nach Sens gekommen war, alles versuchte, um dieses Vorgehen zu verhindern. Ein Licht auf die Vorgänge wirft auch ein späterer Bericht. Als auf Betreiben Bernhards Gilbert von Poitiers im Jahre 1147 auf einem Konzil in Reims unter Vorsitz des Papstes Eugen III. ebenfalls der Ketzerprozess gemacht wurde, wird die Vorgehensweise durch Johannes von Salisbury genau beschrieben. Auch hier versammelte Bernhard am Vorabend der öffentlichen Sitzung die Konzilsteilnehmer, hielt eine Rede, las die einzelnen Sätze aus einer Irrtumsliste vor und ließ über jeden Satz abstimmen. Dazu bemerkten einige Kardinale, "dass Bernhard gegen Abaelard in ähnlicher Weise vorgegangen sei". Gegen Gilbert wird sich Bernhard mit diesem Verfahren nicht durchsetzen. Jetzt hatte die Überrumpelungstaktik Erfolg. Es gelang Bernhard, die Bischöfe mehrheitlich von der Richtigkeit seiner Absicht zu überzeugen. Was dieses Vorgehen kirchenrechtlich bedeutete, ist ihnen vermutlich erst am nächsten Tag deutlich geworden. Es wurde über die einzelnen Sätze abgestimmt, und jeder wurde als häretisch befunden. Durch diese Abstimmung hatte sich die Versammlung der Bischöfe außerhalb der öffentlich tagenden Synode als Gericht konstituiert, das im Offizialverfahren, ohne öffentliche Anklage, verhandelte - was Bernhard immer erstrebt hatte - und die Irrtumsliste verurteilte.

Rechtlich nicht zu beanstanden war, dass sich die Bischofsversammlung als Gericht im Offizialverfahren konstituierte. Es war das Recht des Erzbischofs, so zu verfahren. Damit war das Urteil formal korrekt, vom zuständigen Gericht erlassen. Dass die Sätze der vorgelesenen Irrtumsliste häretisch waren, war kaum zu bestreiten. Damit war das Urteil auch inhaltlich korrekt. Nur, waren die Sätze der Irrtumsliste Lehre Abaelards? Abaelard hatte bestritten und wird bestreiten, dass die Liste oder ihre verschiedenen Fassungen, die im Umlauf waren, seine Lehre wiedergäben. Heute wissen wir aus der inzwischen geklärten Quellenlage, dass Abaelard recht hatte. Ohne Abaelard zu hören, durfte die Liste zwar als häretisch verurteilt werden - was niemanden interessierte -, nicht aber als Liste Abaelardscher Irrtümer.

Aber noch aus einem anderen Grund war das Verfahren rechtlich unkorrekt. Nach Abaelards Ansicht, der sich der Erzbischof von Sens angeschlossen hatte, hatte Bernhard durch seine Anschuldigungen den Akkusationsprozess eröffnet. Abaelard hatte im Rahmen dieses Verfahrens den Antrag gestellt -petitio, wie er selbst schreibt, postulatio, wie Gottfried von Auxerre berichtet -, dass der Ankläger Rede und Antwort stehen solle und ihm, Abaelard, die Gelegenheit gegeben werde, seine Sicht der Dinge vorzutragen. Der Erzbischof hatte diesem Antrag stattgegeben und einen Termin zur öffentlichen Verhandlung anberaumt. Zu diesem Zweck war das Konzil einberufen worden. In diesem Stadium des Verfahrens am Vorabend des Termins, ohne Abaelard zu hören, die Verfahrensart in geschlossener Sitzung auszuwechseln und über die vom bisherigen Ankläger vorgebrachten Anklagepunkte in Gegenwart des Anklägers, ohne Gegenwart des Angeklagten im Amtsverfahren in dieser Instanz endgültig zu entscheiden, war nicht nur unfair, hinterhältig, wie es Abaelard empfinden musste, sondern rechtswidrig. Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Ablauf der Dinge in den Berichten nach Rom völlig verschwiegen wird. Bernhard hatte gewonnen, Abaelard aber hatte mit seiner Meinung über Bernhard recht behalten.

Noch in der Nacht dürfte Hyazinth Abaelard vom Ausgang der Sitzung unterrichtet haben. Dieser hatte somit etwas Zeit, sich angesichts der neuen Sachlage auf die öffentliche Verhandlung am anderen Morgen vorzubereiten. Er tat es.

Am nächsten Morgen versammelten sich die Konzilsteilnehmer, der König, die Großen des Reiches und das ganze Volk in der Kathedrale Saint-Stephan. Die Versammelten waren bis auf die Bischöfe ahnungslos und warteten gespannt auf das Rededuell zwischen Abaelard und Bernhard. Bernhard hatte schon recht, sie warteten nicht auf die Entscheidung des Heiligen Geistes in seiner Gemeinde, sie warteten auf ein Spektakel. Nur wer sehr genau das kirchliche Protokoll kannte, hätte aufmerken müssen: Abt Bernhard von Clairvaux saß unter den Bischöfen oben im Chor, Abt Petrus Abaelard irgendwo unten im Schiff.

Das Konzil begann mit einem feierlichen Pontifikalamt und der Anrufung des Heiligen Geistes. Dann wurde die Sache Abaelards aufgerufen. Abaelard stand auf und trat in den Chor vor den Altar. Da erhob sich Bernhard von Clairvaux, trat in die Mitte des Chores, stellte sich vor Abaelard, las im Namen der Bischöfe die am Abend zuvor verurteilten Sätze vor und fragte Abaelard, ob das seine Sätze seien und ob er diese noch vertrete. Es war die Frage an den Ketzer vor seiner Verurteilung. Sie war notwendig, um von der bereits erfolgten Verurteilung der Sätze zur Verurteilung der Person Abaelards fortschreiten zu können.

Dass der Erzbischof von Sens diesen Ablauf zugelassen hat, zeigt, dass auch im Stil der Eindruck eines fairen Verfahrens nicht mehr erweckt werden sollte. Bernhard war nicht Mitglied des Gerichts, das im Offizialverfahren schon entschieden hatte. Er hatte dort keine Funktion, so wenig wie irgendein anderer der versammelten Äbte. Und er war der Gegner Abaelards. Bernhard hatte erreicht, dass die Verfahrensarten vermischt wurden mit dem Ziel, seine eigene Person, über deren Bedeutung sich der "demütige Abt", wie er sich in seinen Briefen nannte, durchaus im klaren war, unauswechselbar ins Spiel zu bringen. In den Verurteilungsdekreten des Papstes wird, diesen Formfehler fortsetzend, Bernhard von Clairvaux immer namentlich mit den beiden Erzbischöfen genannt, während die Bischöfe nur als Kollegium erwähnt werden. Er war aufgerückt vom persönlichen Ankläger vor einem Gericht zum öffentlichen Ankläger des Gerichts.

An Abaelard war die Frage als einem angeklagten Häretiker gestellt. Hätte Abaelard jetzt geantwortet, bestritten oder zugestimmt, hätte er sich auf das Amtsverfahren eingelassen, der Verurteilung der Sätze als häretisch wäre die Verurteilung seiner Person als Häretiker gefolgt. Eine freie Darstellung seines Systems der Theologie, wie er sie vorgehabt hatte, eine Befragung Bernhards sozusagen im intellektuellen Kreuzverhör war nicht mehr möglich. Nur die verurteilten 19 Sätze standen noch zur Verhandlung, und einige hiervon fanden sich textlich jedenfalls so ähnlich in seinen Werken, dass dies sicher auch zur Verurteilung seiner Person ausgereicht hätte.

Abaelard hatte die Frage Bernhards gehört und schwieg. Jetzt war Wirklichkeit geworden, wovor er sich seit dem Konzil von Soissons vor fast 20 Jahren fürchtete. Er stand wieder vor einem Ketzergericht, wieder hatten ungerechte Richter einen ungerechten Spruch gefällt, und sie waren dabei, gegen ihn als rückfälligen Ketzer persönlich vorzugehen. In seinen Predigten hatte er diese Situation, sie vorwegnehmend, immer wieder behandelt. Die Tochter des Hilkijas, Susanne, von drei alten, geilen Richtern verfolgt, war ungerecht zum Tode verurteilt worden, und nur der Prophet Daniel hatte sie gerettet  - Dan. 13,1-64. Und Jesus hatte vor dem großen Sanhedrium gestanden, vor einem ungerechten Gericht, und war zum Tode verurteilt worden. "Jesus aber schwieg." -  Matth. 26,63.

Auch Abaelard schwieg. Sah er in sich hinein? Horchte er auf die Stimme Gottes, die Stimme seines Gewissens ? Sah er dem vor ihm stehenden Bernhard von Clairvaux in die Augen, horchte er auf die aufkeimende Unruhe in der Kirche, die in die gespannte Stille hinein lauter wirkte, als sie sein mochte? Dachte er an seine Schüler, sein Werk? Abaelard schwieg. In diese Stille hinein wiederholte Bernhard seine Frage, vielleicht mit erhobener, lauterer Stimme. Jetzt jedenfalls sah Abaelard Bernhard an, den Abt von Clairvaux, sah Heinrich an, den Erzbischof von Sens und Vorsitzenden der Synode, sah Gottfried und Hatto an: Bischof Gottfried von Chartres, der ihn in Soissons so unerschrocken verteidigt, und Bischof Hatto von Troyes, der den Parakleten geweiht hatte; er sah Joscelin an, den Bischof von Soissons, der schon vor 30 Jahren von ihm gesagt hatte, er sei eher ein Spötter als ein ernsthafter Redner, eher ein Spaßmacher als ein Lehrer, jetzt sah er sie alle an, und er sagte nein, er wolle nicht Rede und Antwort stehen, er appelliere an den Papst.

Abaelard verzichtete damit nicht nur auf die Einlassung zur Frage Bernhards, die eine Einlassung auf das neue Verfahren gewesen wäre. Abaelard verzichtete auch auf die Darlegung seiner Berufung. Er warf dem Gericht nicht seine Voreingenommenheit vor, nicht das regelwidrige Auftreten Bernhards im Offizialverfahren, nicht das Ränkespiel des heimlichen Austauschs der Verfahren. Abaelard schwieg und zeigte hierdurch dem Gericht, dass er es nicht als die Instanz ansehe, die über ihn zu urteilen habe. Er hatte sein Magisteramt von Gott, er hatte seine Theologie geschrieben mit Hilfe Gottes, diese Bischöfe vor ihm konnten ihm nicht nehmen, was Gott ihm gegeben hatte, sie konnten nicht beurteilen, was Gott ihn hatte denken lassen. Und dieser Abt vor ihm, Bernhard, war nicht sein Richter, sondern sein Feind.

Jetzt waren die Konzilsväter bestürzt und ratlos, die übrige Menge verstand überhaupt nichts mehr. Unruhe muss in der Kirche aufgekommen sein. Abaelard hatte sich doch diesen Auftritt vor dieser Versammlung gewünscht, und nun verstummte er. Gerüchte mussten unter diesen Umständen entstehen, wohlmeinende und bösartige. Die Gegenseite griff sie eifrig auf. Gottfried von Auxerre berichtet in seiner Vita Bernhards, dass "in jener Stunde wenigstens teilweise sein Gedächtnis versagt habe, dass sich sein Verstand verdunkelt habe, ja ihm die Sinne geschwunden seien", als habe, wie noch ein Bernhard-Verehrer unseres Jahrhunderts meinte, der bloße Anblick seines Anklägers ihn entwaffnet und vernichtet. Otto von Freising meinte, Abaelard habe sich vor einem Aufstand gefürchtet, und ein neuer Autor hat das Verhalten Abaelards auf die vermutlich sich bereits zeigende Krankheit zurückgeführt.

Der Erzbischof fing sich, sicherte Abaelard freies Gehör  - libera audientia - , sicheres Geleit  - tutus locus -  und ein unvoreingenommenes Gericht  - aequi judices -  zu. Die Zusicherung musste Abaelard zynisch erscheinen. Er schwieg und verließ mit seinen Anhängern die Kirche. Beim Hinausgehen ereignete sich noch eine denkwürdige Szene, die uns Gottfried von Auxerre berichtet hat. Abaelard ging an Gilbert von Poitiers vorbei. Da wurde ihm wieder deutlich, dass das, was er soeben erlebt hatte, gar nicht ihm als Person galt, sondern dass die entstehende Wissenschaft getroffen werden sollte, wie Abaelard sie vertrat. Gilbert war ein Mann seiner Richtung, wenn auch nicht sein Freund. So blickte er ihn an und zitierte die Verse des Horaz:

Tunc tua res agitur!

Auch um Dich geht es,
Wenn die Mauer des Nachbarn brennt!

Im Jahre 1147 betrieb Bernhard das Verfahren gegen Gilbert.

Abaelard hatte an den Papst appelliert. Damit war dem Gericht in Sens der Spruch über die Person entzogen und zugleich der Spruch über die Irrtumsliste zur erneuten Entscheidung in Rom gestellt.

Verfahren in Rom gingen ihren gemächlichen Gang. Erschien eine Partei selbst oder ihr Anwalt, ihr Prokurator, so wurde verhandelt, andernfalls wurden Schriftsätze gewechselt. Personen oder Briefe mussten die Alpen überqueren, den Weg an der Küste entlang nehmen oder das Schiff. Abaelard begann sich auf die Berufung vorzubereiten.

Anders Bernhard. So wie er in Sens den Verfahrensablauf an sich gerissen hatte, so bestimmte er jetzt mit Hilfe seines Sekretärs Nikolaus von Montier-en-Der [ Montiéramey] den weiteren Ablauf der Ereignisse. Der Abt überließ nichts mehr dem Zufall.

Zuerst mussten die Konzilsakten gefertigt und nach Rom gesandt werden. Drei amtliche Schriftstücke gingen dorthin, alle drei von Bernhard verfasst oder mitverfasst. Der Erzbischof von Sens und seine Suffragane erstatteten ausführlichen Bericht. Der Erzbischof von Reims und seine Suffragane schickten ein Schreiben allgemeinen Inhalts, und den Schreiben wurde die letzte Fassung der Irrtumsliste beigefügt, so wie sie in der Nachtsitzung verurteilt worden war.

Der Brief der Bischöfe der Kirchenprovinz Sens berichtet den Hergang des Verfahrens, die kirchenrechtlichen Schritte der denuntiatio Evangelica durch Bernhard von Clairvaux, Abaelards Versprechen der Korrektur und den Bruch dieses Versprechens, Abaelards Brief an seine Freunde, die Ladung zum Konzil, die anfängliche Weigerung Bernhards, an dem Konzil teilzunehmen, die Teilnehmer des Konzils einschließlich des Königs und seiner Großen und schließlich die Anwesenheit des Abtes Bernhard von Clairvaux und des Magisters Petrus Abaelard und seiner Anhänger. Berichtet wird, dass Abt Bernhard die Irrtümer Abaelards vorlas, und angedeutet, dass sie bereits am Abend zuvor  - pridie - , also vor der Appellation Abaelards an den Papst, verurteilt worden waren. Weiter wird berichtet, dass Abaelard die Einlassung trotz der Zusicherung freier Rede, sicheren Geleits und fairer Richter verweigert und an den Römischen Stuhl appelliert habe. Daraufhin habe man von einem weiteren Vorgehen gegen ihn als Person abgesehen. Soweit der Sachverhalt. Dann wird die Berufung an den Papst für zulässig erklärt, obwohl dies im Gericht bestritten worden war. Der Erzbischof von Sens wollte kein Risiko eingehen. Die erst kürzlich aufgehobene Suspension von seinem Amt hatte mit einer unterdrückten Berufung zu tun gehabt. Dann folgen die Gründe für die Verurteilung Abaelards. Die verurteilten Sätze  - sententiae -  seien entsprechend der Autorität des hl. Augustinus und anderer Kirchenväter, wie der Abt von Clairvaux dargelegt habe, irrig  - falsae - , äußerst gefährlich  - perniciosissimae - , ganz offensichtlich häretisch  -haereticae evidentissimae -  und deswegen verurteilenswürdig  - damnabiles . Abaelard habe sie auch öffentlich und immer wieder in Vorlesungen vorgetragen. Schließlich enthält das Schreiben den Antrag für die letzte Instanz des Prozesses, der Papst möge das mit der Berufung angefochtene Urteil des Konzils von Sens über die Irrtümer bestätigen und mit unanfechtbarer Rechtskraft versehen, der Person Abaelards ewiges Schweigen mit dem Verbot des öffentlichen Vertrags und des Schreibens auferlegen und seine Bücher, die ohne Zweifel verkehrte Ansichten enthalten, verurteilen.

Der Brief enthält alles, was ein heutiger Prozessbericht bei gleicher Rechtslage ebenfalls enthalten würde. "Revisionssicher", wie wir heute sagen würden, ist er allerdings dennoch nicht. Die Auswechslung der Verfahrensart ist nicht berichtet. Dass die Sätze bereits am Abend vor der öffentlichen Sitzung verurteilt worden waren, wird nur mitgeteilt, um darzulegen, dass dieses Urteil bereits vor der Appellation durch Abaelard, also formal noch vom zuständigen Gericht, erlassen war. Nach damaligem Prozessrecht konnte nämlich die Berufung schon vor dem Urteil erfolgen, dann durfte dieses aber nicht mehr ergehen. Was als vorbereitendes Treffen begonnen hatte, war plötzlich zur urteilsfällenden Sitzung des Gerichts in einer neuen Verfahrensart geworden. Der Bericht verschweigt dies. Der zweite Fehler lag in der fehlenden Beweiserhebung. Der Bericht nennt Bernhard als theologischen Sachverständigen für die dogmatische Abtrünnigkeit der verurteilten Sätze. Als solcher war er nicht bestellt, hatte er nicht fungiert und war er nicht befähigt. Am schlimmsten war aber, dass einfach behauptet wurde, die verurteilten Sätze seien von Abaelard in der vorliegenden Form immer wieder öffentlich vorgetragen worden. Abaelard hat das, und zu großem Teil mit Recht, immer wieder bestritten.

Der Brief der Bischöfe der Kirchenprovinz Reims ist kürzer, allgemeiner und teilweise unsachlich. Er enthält aber einige interessante Zusätze. Er berichtet, dass das Gericht, das die Sätze Abaelards verurteilt hat, von diesem selbst gewählt worden war, dass er die Berufung wohl nur deswegen eingelegt habe, um Zeit zu haben, seine Übeltaten fortzusetzen, zumal da er sich der Unterstützung Roms rühme, und schließlich dass er ein Rückfalltäter sei, da sein Hauptwerk in Gegenwart eines Päpstlichen Legaten bereits einmal verurteilt worden sei. In dem Bericht der Kirchenprovinz Sens, zu der ja auch Bischof Gottfried von Chartres gehörte, war dieser wichtige, wenn auch prozessual problematische Sachverhalt nicht erwähnt worden, offensichtlich weil damals Bischof Gottfried Abaelards Anwalt war...

 


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