Petri Abaelardi Tractatus de Intellectibus - Über die Einsichten

© Werner Robl, Dezember 1999

Einleitung

Der Tractatus de Intellectibus ist nur durch einziges Manuskript erhalten, das heute unter der Katalognummer 232 in der Bibliothèque Municipale von Avranches aufbewahrt wird. Victor Cousin hatte es 1859 in seinen Petri Abaelardi Opera erstveröffentlicht. Nach seinen Angaben stammt das Manuskript aus der Klosterbibliothek vom Mont Saint-Michel, wo es von den Mönchen unter falschem Titel Abaelard über die Physik des Aristoteles aufbewahrt worden war. Die Urheberschaft Abaelards war in jüngerer Zeit umstritten - siehe B. Geyer, C. von Prantl et al. In der kritischen, lateinisch-französischen Edition von Patrick Morin (1994) konnten die Zweifel an der Urheberschaft Abaelards weitgehend beseitigt werden. Diese Edition behebt auch zahlreiche Fehler der früheren Editionen Cousins und Ulivis und enthält auch eine ausführliche Interpretation des Werkes sowie Angaben zum möglichen Zeitpunkt der Erstellung.

Die hier vorliegende deutsche Übersetzung des Werkes folgt der lateinischen Ausgabe P. Morins. Es ist eine Rohübersetzung ohne Gegenkorrektur und enthält deshalb sicher noch multiple Übersetzungsfehler. Die Umsetzung in ein flüssiges und modernes Deutsch hätte vieles an der komplizierten lateinischen Satzkonstruktion zerstört und vermutlich zu Sinnentstellungen geführt. So wurde im wesentlichen genau am lateinischen Originaltext mit seinen zahlreichen Schachtelkonstruktionen und semantischen Eigenarten übersetzt, was sicher nicht die Lesbarkeit der Übersetzung begünstigt. Aber diese Methode gewährleistet am ehesten einen Einblick in die verwundenen Gedankengänge Abaelards, in sein Spiel mit den dialektischen, logischen und grammatikalischen Begriffen seiner Zeit. So manches klingt für heutige Ohren reichlich sophistisch und pseudowissenschaftlich, vieles bleibt im Dunklen. Und doch wird in unvergleichlicher Weise Abaelards Bemühen deutlich, durch eine genaue Differenzierung der logischen Sachverhalte und ihre sprachliche und grammatikalische Einordnung erstmals eine Systematik der komplexen Abläufe des menschlichen Verstandes zu erstellen. Entgegen der Expertenmeinung ist das Werk mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Frühwerk Abaelards - den Jahren vor 1105 - zuzurechnen, denn es enthält es so gut wie keine Gedanken theologischen oder allgemein-religiösen Inhalts. Eventuell war es Teil der verloren gegangenen Grammatica Abaelards. Im folgenden findet sich eine übersichtliche Systematik, gefolgt vom ausführlichen Übersetzungstext. Im Anhang daran findet sich eine kurze Aufstellung des Spezialwortschatzes.

Systematik

 

Die Zustandsformen der Seele - affectiones anime

Kapitel 1 – 28:

Die Unterschiede der Einsichten untereinander - differentia intellectuum

Kapitel 31 – 55: Kapitel 56 – 73:

 

Übersetzung: Peter Abaelards Abhandlung über die Einsichten

Kapitel 1

Da wir also über die geistigen Vorspiegelungen, d. h. über die Einsichten, diskutieren wollen, haben wir - um letztere sorgfältiger darzulegen - beschlossen, gerade diese als erstes von den sonstigen Leidenschaften bzw. Zuständen der Seele zu unterscheiden - von diesen freilich, die sich am meisten an deren (der Einsichten) Natur annähern; als zweites, sie auch untereinander – nach den ihnen eigenen Unterschieden - zu trennen - in dem Maße, wie es unserer Meinung nach für die Sprachtheorie notwendig ist. Es sind aber fünf Seelenzustände, die von diesen Einsichten sorgfältig unterschieden werden müssen: Der Sinneseindruck, die innere Vorstellung, die Einschätzung, das Wissen, die Vernunft.

Kapitel 2

Mit dem Sinneseindruck ist die Einsicht ebenso der Herkunft wie dem Namen nach verbunden. Allerdings der Herkunft nach - denn ein jeder der fünf Sinne bringt uns - indem er jede beliebige Wirklichkeit erfasst - bald zur Einsichtsfähigkeit derselben Wirklichkeit. Gerade, wenn wir etwas sehen, höheren, riechen, schmecken oder hören, begreifen wir das, was wir sinnesmäßig erfassen, bald. Die menschliche Schwäche wird so sehr dazu getrieben, sich von den Sinneseindrücken zu den Einsichten zu erheben, dass wir kaum etwas durch Einsicht schaffen können, was nicht den gegenständlichen Realitäten ähnelt, die wir durch Sinneserfahrung erlernt haben.

Kapitel 3

Auch dem gesprochenen Wort nach setzen wir manchmal missbräuchlich Sinneseindruck für Einsichten, wenn wir vom Sinn der Worte anstelle von Einsicht der Worte sprechen. Sowohl Aristoteles als auch die meisten der anderen Autoren setzen häufig Sichtweise für Einsicht - vielleicht deshalb, weil ein derartiger Sinneseindruck der Einsicht ähnlicher erscheint als alle anderen. In der Tat platziert der Geist und die Realität, die wir begreifen, so vor sich hin, wie wir gewohnt sind, eine uns vorgesetzte Realität zu sehen: entweder als sehr nahe oder als sehr lange während. Wenn deshalb sowohl der Herkunft als auch dem Namen nach Sinneseindruck und Einsicht in enger Verbindung stehen, so habe ich es für notwendig erachtet, ihre Unterschiedlichkeit aufzuzeigen, und zwar dann, wenn sie gleichzeitig in der Seele auftreten.

DIE UNTERSCHIEDLICHKEIT DES SINNESEINDRUCKS IN BEZUG AUF DIE EINSICHT
Kapitel 4

Dennoch besteht ein Unterschied; denn der Sinneseindruck als Wahrnehmung einer körperlichen Realität bedarf eines körperlichen Instrumentes, d. h., eine solche Anbindung des Seele, welche sich notwendigerweise auf die körperliche Realität ausrichtet und zuwendet und durch ein körperliches Instrument ausgeübt wird, nämlich durch die Augen oder durch die Ohren oder durch einen beliebigen anderen Teil des beseelten Körpers, ohne den der Sinneseindruck selbst überhaupt nicht stattfinden kann.

Kapitel 5

Die Einsicht aber, d. h., der eigentliche Denkvorgang des Geistes, bedarf weder der Ausübung einer Körperfunktion, die er offensichtlich zum Denken benützte, noch eines Vorzugs der existierenden Realität, über den nachgedacht wurde, da freilich der Geist sowohl eine existierende oder nicht-existierende Sache, sei sie gegenständlich oder nicht, sich durch Einsicht verfügbar macht, entweder durch Erinnerung der Vergangenheit oder durch Voraussicht der Zukunft oder auch, indem er sich manchmal etwas zusammenreimt, was niemals wirklich sein kann, z. B. einen Kentauren, eine Chimäre, einen Bockshirsch, Sirenen oder vieles andere mehr. Darin besteht der offensichtliche Unterschied zwischen Sinneswahrnehmung und Einsicht.

Kapitel 6

Außerdem hat der Sinn keine Kraft der Überlegung, d. h., etwas zu erkennen nach einem Wesenszug oder einer Eigentümlichkeit desselben. Deshalb ist der Sinneseindruck gleichermaßen sowohl den vernunftlosen wie den vernunftbegabten Lebewesen gemeinsam. Es kann aber nicht nur das eine Einsicht sein, wenn etwas aus der Vernunft heraus gemäß einem Wesenszug oder eine Eigentümlichkeit begriffen wird, selbst wenn das Einsichtsvermögen erfolglos ist. In der Tat - wenn sich der Geist einen Kentauren als ein Lebewesen vorstellt, teils Mensch, teils Pferd, dann muss er deshalb notwendigerweise die Natur des Lebewesens, sowohl in Bezug auf den Körper wie auf die Substanz, beachten. Und da er gleichsam manche Teile des Menschen und des Pferdes als miteinander verbunden betrachtet, lässt er nicht die Eigentümlichkeit des Menschen- und Pferdekörpers außer acht.

Kapitel 7

Von daher kann Einsicht dann am allerwenigsten vorliegen, wenn keine Vernunft zugrunde liegt, aus der heraus etwas überlegt, d. h. nach einem Wesenszug oder einer Eigentümlichkeit beachtet wird. Vernunft aber nennen wir gerade die Unterscheidungskraft oder das Unterscheidungsvermögen des Geistes, mit welchen er hinreichend die Wesenheiten der Dinge durchschaut und wahrheitsgemäß unterscheidet.

ÜBER DIE VERNUNFT IN BEZUG AUF DIE VERNÜNFTIGKEIT

Kapitel 8

Vernunftbegabung ist aber nicht der Vernunft gleichzusetzen: jene wohnt zwar allen himmlischen und menschlichen Geistern inne, wonach sie vernunftbegabt genannt werden. Die Vernunft aber steckt nur in manchen besonderen Geistern allein, wie wir gesagt haben. Meiner Meinung nach besteht deshalb zwischen Vernunftbegabung und Vernunft ein so großer Unterschied wie zwischen der Fähigkeit, zu laufen, und der Fähigkeit, flink zu laufen, wie auch Aristoteles gemäß der Flexibilität der Gliedmaßen die Läufer benennt.

Kapitel 9

Welcher Geist auch immer aus seiner Eigennatur heraus Unterscheidungsvermögen hat, der hat Vernunftbegabung. Vernunft hat aber jener allein, dem leicht fallen, zumal er durch keine Anfälligkeit des Alters oder Ungeschicklichkeit seiner körperlichen Verfassung aufgehalten wird, woraus er eine Verwirrung nach sich zöge, so dass er wahnsinnig oder dumm wird.

DARÜBER, DASS DER GEIST UND DIE VERNUNFT DASSELBE SIND

Kapitel 10

Die Vernunft erscheint uns identisch mit dem Geist. Aus dem Oberstehenden wird deutlich, dass die Einsicht sich ebenso wie vom Sinneseindruck auch von der Vernunft unterscheidet, und dass sich diese notwendigerweise von der Vernunft ableitet, wie eine Wirkung der Vernunft.

Kapitel 11

Wo deshalb keine Vernunft vorliegt, fehlt zwangsläufig auch die Einsicht, die immer - wie erwähnt - aus der Vernunft heraus entweder den Wesenszug oder die Eigentümlichkeit - ob vom Mensch oder vom Pferd - abwägt, oder eine Farbe oder Form eines Subjekts, wobei sie diese in sich selbst widerspiegelt oder abwechselnd verknüpft oder unterscheidet.

DER UNTERSCHIED DER INNEREN VORSTELLUNG IN BEZUG AUF DIE EINSICHT

Kapitel 12

Es ist klar, dass sich die Einsicht auch von der inneren Vorstellungskraft unterscheidet, da auch die Vorstellungskraft sowie der Sinneseindruck nichts aus der Vernunft heraus überlegt; aber in den Realitäten, die wir sinnlich wahrgenommen haben, stellt die Vorstellungskraft nichts anderes da als eine gewisse Erinnerung des Sinneseindrucks, wenn offensichtlich der Geist - beim Fehlen der vormals gefühlten Realität - derartig und anhaltend den Sinneseindruck durch eine gewisse Art von Erinnerungsvermögen in den Zustand zurückversetzt, wie er vorher war, als er fühlte. Dabei bedenkt er auch jetzt durch die innere Vorstellung nichts aus der Vernunft heraus, so wie er es auch vorher nicht durch den Sinneseindruck tat. Ich habe deshalb durch die Vorstellungskraft angefügt, weil wir, wenn gleichzeitig die Vorstellungskraft und die Einsicht derselben Seele ebenso häufig innewohnt wie der Sinneseindruck und die Einsicht, nicht in Abrede stellen können, dass eine gewisse innere Überlegung vorliegt, jedoch durch die Einsicht und nicht durch die Vorstellungskraft.

Kapitel 13

Es ist deshalb die innere Vorstellung eine formlose Wahrnehmung der Seele ohne eine Empfindung der Sache freilich, die wir uns vorstellen; wir nennen sie formlos, da sie nichts aus der Vernunft selbst heraus überlegt, so, wie auch der Sinneseindruck. Zwar fühlen wir oft das, was wir in keiner Weise durch die Einsicht erkennen; und obwohl der Sinneseindruck gegen die auftretenden äußeren Dinge gerichtet ist, wird dennoch der Geist durch die Einsicht auf anderes hin ausgerichtet. Z. B., wenn wir mit dem Studium einer Sache oder der Meditation darüber anhaltend beschäftigt sind, wird die Anstrengung unseres Einsichtsvermögens auf diese Sache ausgerichtet und nicht auf die Dinge, die wir entweder aktuell sehen oder auf irgendeine Weise empfinden. Auf der anderen Seite würden wir kaum jemals zögern, die Erde oder den Himmel, die wir ständig sehen, auch verstandesmäßig zu erfassen.

Kapitel 14

Doch auch, wenn über dieselbe Sache Sinneseindruck und Einsicht gleichzeitig vorliegen, so verfahren sie dabei gegensätzlich, da der Akt des Fühlens und der Akt des Begreifens sich in hohem Maße unterscheiden - wie aus dem Obenstehenden ersichtlich wird - und in Letzterem steckt offensichtlich Überlegung, in Erstgenanntem jedoch keinesfalls. Aber auch die verschiedenen Sinneseindrücke fallen, wenn sie in einer Sache gleichzeitig vorliegen, z. B., wenn man gleichzeitig Holz berührt und sieht, bezüglich ihrer Eigentümlichkeit nicht auseinander, auch wenn sie denselben Sachverhalt auf verschiedene Weisen wahrnehmen. Deshalb wird ein jeder von beiden Sinneseindrücken auch ohne den anderen völlig aufrechterhalten. So wird auch die Einsicht ohne den dazugehörigen Sinneseindruck völlig unversehrt bestehen bleiben, allerdings in derselben Überlegung des vorbestehenden Sachverhalts.

Kapitel 15

Dies aber haben wir auch ohne den Sinneseindruck unterstellt, wenn wir die innere Vorstellung beschreiben; es läuft darauf hinaus, weil es notwendig war, jenes in Bezug auf den Ausschluss des Sinneseindrucks zu unterstellen. Denn auch der Sinneseindruck ist eine formlose Wahrnehmung der Seele und unterscheidet nichts nach der Vernunft. Wo nämlich ein Sinneseindruck vorliegt, kann eine gleichzeitige innere Vorstellung in derselben Sache nicht wirksam werden; wenn allerdings der Sinneseindruck entfällt, nimmt die innere Vorstellung dessen Platz ein, zwar nicht durch einen Gefühlsvorgang, aber doch durch die Wahrnehmung der abwesenden Sache, wie es auch der Sinneseindruck durch urteilsloses Unterscheiden bewerkstelligt. Das haben wir schon zur Genüge erwähnt.

Kapitel 16

Es gibt also nur eine innere Vorstellung in Abwesenheit einer Realität, deren Anwesenheit freilich dem Sinneseindruck nicht begegnet. Der Sinneseindruck aber existiert nur in Gegenwart einer Realität. Die Einsicht dagegen entsteht unabhängig von der An- oder Abwesenheit einer Sache; es gilt anzumerken, dass dort, wo auch immer ein Sinneseindruck bestehen kann, auch eine innere Vorstellung möglich ist. Denn auch die vernunftlosen Tiere behalten - wenn die Dinge, die sie sinnesmäßig erfasst haben, hinweg getreten sind - eine innere Vorstellung von ihnen, wie Boethius bezeugt - so, als ob sie an den Dingen selbst, die sie sinnlich erfasst hatten, durch eine gewisse Erinnerung, aus der inneren Vorstellung heraus, fest hängen - so, wie sie es vorher aus dem Sinneseindruck heraus getan hatten; und in dem Maße ihrer Fähigkeiten tragen die einen längere Zeit, die anderen kürzere Zeit diese Vorstellung, die der Sinneseindruck eingeprägt hat, mit sich herum. Es gilt auch noch anzumerken, dass Aristoteles - obwohl manche alle inneren Vorstellungen als Erinnerungsbilder der Sinneseindrücke wie erwähnt verstehen, d.h., diese aus den gefühlten Dingen allein gelten lassen wollen - dass also - wie Boethius über Perihermenias bezeugt - Aristoteles dennoch anführt, dass unsere Einsichten keineswegs ohne innere Vorstellungen gewonnen werden.

Kapitel 17

Wenn wir daher die meisten Einsichten über nicht-körperliche Realitäten haben, dann auch über die gegenständlichen, die wir durch keinen Sinneseindruck jemals erfasst haben. Nach Aristoteles muss als innere Vorstellung, die wir bereits oben beschrieben haben, offensichtlich jede formlose Wahrnehmung der Seele genannt werden, ohne Sinneseindruck, egal ob sich jene Wahrnehmung aus dem Sinneseindruck ergeben hat oder überhaupt nicht.

Kapitel 18

Was Aristoteles wahr spricht, dass unsere Einsichten keineswegs ohne innere Vorstellungen gewonnen werden, muss, wie ich meine, so verstanden werden: Während wir uns anstrengen, in einer Sache durch Einsicht einige Wesenheit oder Eigentümlichkeit zu bedenken, und Sorge tragen, auf sie allein zu achten, führt gerade die Gewohnheit des Sinneseindrucks, von welchem die gesamte menschliche Kenntnis kommt, dem Geist durch die innere Vorstellung manches zu, worauf wir in keiner Weise aus sind.

Kapitel 19

Ein Beispiel: Während wir dazu neigen, im Menschen nur das, was zum Wesen des Menschseins gehört, zu begreifen, nämlich ein vernunftbegabtes sterbliches Lebewesen (nachdem wir alles andere umgangen haben, was zur menschlichen Substanz nicht gehört), legt sich in der Tat vieles durch die innere Vorstellung gegen den Willen des Geistes in den Weg, worauf wir überhaupt nicht abgezielt haben können, z. B. die Farbe oder Länge oder Anordnung der Gliedmaßen und sehr viele Akzidenzien des Körperbaus, die wir häufig durch Sinneseindrücke erfahren haben. Und dies so sehr, wie man - was verwunderlich ist - ,noch während man auf etwas gleichsam Nicht-Körperliches durch die Einsicht achtet, dennoch gezwungen ist, sich durch den Gebrauch der Sinne etwas Körperliches vorzustellen, oder wie man, noch während man etwas als nicht gefärbt begreift, dennoch durch den Zwang der Gewohnheit des Sinnes es sich als gleichsam farbig vorstellt.

Kapitel 20

In der Tat werden die Sinneseindrücke als erstes geweckt und sie sind zahlreich. Erst in zweiter Linie erhebt sich der menschliche Geist zu inneren Vorstellung und erst danach zur Einsicht. Was wir aber als erstes uns eingeprägt haben, behalten wir um so fester; von daher kommt jener Spruch von Horaz: “Die Schale bewahrt lange den Geruch dessen, mit dem sie einmal getränkt worden ist". Die Gewohnheit des Sinneseindrucks aber ist - wie oben erwähnt - so mit uns verknüpft, dass wir kaum oder niemals etwas zu begreifen vermögen, was wir uns gleichsam nicht als gegenständlich oder als der körperlichen Eigenheit unterworfen vorstellen können. Aber es ist kaum deshalb gesagt worden, weil vielleicht nach Boethius das Einsichtsvermögen, das er nur ganz wenigen Menschen und Gott allein zuschreibt, sowohl jeglichen Sinneseindruck und jegliche Vorstellungskraft so übersteigt, dass das Einsichtsvermögen beider nicht bedarf, dass freilich auch nichts dem Geist sich präsentiert, alles nur das allein, was begriffen oder beachtet wird.

Kapitel 21

Es ist deshalb Einsichtsvermögen eine derartige Einsicht, die keine formlose Wahrnehmung der Seele begleitet, sei es durch Vorstellungskraft oder Sinneseindruck. Es liegt auf der Hand, dass Gott weder Sinn noch Vorstellung innewohnen kann, wenn beides eine formlose Wahrnehmung der Seele ist, aber dieser alles durch ewige Einsicht umfängt, so wie bei genauerer Betrachtung Begreifen und Wissen dasselbe ist.

Kapitel 22

Wenn aber Boethius sagt, dass es Einsichtsvermögen nur bei sehr wenigen Menschen gibt, so glauben wir, dass keinesfalls nach Aristoteles es in diesem Leben gelingt -außer zufällig durch ein Übermaß an Kontemplation - , dass einem die göttliche Enthüllung zuteil wird; und wir sind der Ansicht, dass diese Übersteigung des Verstandes nach Aristoteles eher Wissen als Einsicht genannt wird, und dass man dieses nicht vom menschlichen Geist, sondern vom göttlichen ableiten müsse. Wenn die bereits von Gott aufgenommene Seele diese Einsicht irgendwie annimmt, erhebt sich bereits Gott und es fehlt und stirbt gewissermaßen der Mensch in uns.

Kapitel 23

Vielleicht hält einer Aristoteles entgegen, dass man - wenn Sinneseindruck und Einsicht gleichzeitig auftreten - die Einsicht auch ohne innere Vorstellung gewinnen kann. Hierauf antworten wir mit Nein. Wenn ich nämlich das Holz, das ich sehe, als solches begreife, stelle ich mir dennoch seine Härte oder etwas anderes, das der Blick nicht erfasst, innerlich vor. Deshalb gibt es keine Einsichten ohne unsere Vorstellungen, wie Aristoteles richtig bemerkt hat.

DIE UNTERSCHIEDLICHKEIT DER EINSCHÄTZUNG IM BEZUG AUF DIE EINSICHT

Kapitel 24

Wenn nun jetzt der Unterschied der Einsichten zum Sinneseindruck und zur inneren Vorstellung, ja sogar zur Vernunft, ersichtlich geworden ist, so verbleibt jetzt, diesen Unterschied zur Einschätzung und zum Wissen aufzuzeigen. Deshalb scheint die Einschätzung am meisten mit Einsicht identisch zu sein, weil wir manchmal einsehen statt einschätzen sagen, und der Name Ansicht - diese ist identisch mit Einschätzung - manchmal auf die Einsicht übertragen wird. Es besteht jedoch ein Unterschied, weil einschätzen glauben bedeutet, und Einschätzung dasselbe wie Leichtgläubigkeit oder Glaube.

Kapitel 25

Begreifen aber heißt sich Vorspiegeln mittels der Vernunft; sei es, dass wir so glauben mögen, oder keinesfalls. Wenn ich deshalb sagen höre: Der Mensch ist Holz, gewinne ich nicht weniger Einsicht in dieser Annahme, auch wenn ich dem Vernommenen nicht Glauben schenke, d. h. glaube, dass es nicht so ist, wie ich Einsicht gewinne. Deshalb begreift ein jeder, der etwas einschätzt, das, was einschätzt, zwangsläufig - nicht jedoch umgekehrt.

Kapitel 26

Es gibt jedoch keine Einschätzung außer darüber, was eine Annahme etwas zu sagen hat, d. h., über irgendeine Verbindung oder Trennung von Realitäten. Deshalb steht es fest, dass man diese Einschätzung niemals ohne die Einsicht in die Annahme haben kann.

ÜBER DAS WISSEN IN BEZUG AUF DIE EINSCHÄTZUNG ODER DIE EINSICHT

Kapitel 27

Das Wissen ist aber weder eine Einsicht noch eine Einschätzung, sondern ist gerade eine Gewissheit des Geistes, die genauso andauert, auch wenn eine Einschätzung oder eine Einsicht fehlt. Sonst würden Schlafende das Wissen verlieren. Denn Aristoteles hat das Wissen und die Tugenden aus ihrer Dauerhaftigkeit heraus eher zu den Haltungen als zu den momentanen Verfassungen gerechnet.

Kapitel 28

Soweit zum Unterschied der Einsichten zu den oben stehenden fünf Gefühlsbewegungen.

ÜBER DIE UNTERSCHIEDLICHKEIT DER EINSICHTEN

Kapitel 29

Jetzt aber verbleibt noch - entsprechend unserem versprochenen Vorhaben - , die Einsichten selbst untereinander sorgfältig zu unterscheiden, damit gemäß welchem der sprachliche Unterschied deutlich werde.

Kapitel 30

Man muss also unterscheiden, welches die Einsichten sind, die zusammengesetzt, die alleinig oder vielfältig, die auch stichhaltig oder gegenstandslos, wahr oder falsch genannt werden müssen; außerdem alles, was zur zusammensetzenden Einsicht oder zu Einsicht der zusammengesetzten Dinge, was zur trennenden Einsicht oder zu Einsicht der getrennten Dinge gehört, oder zu Einsicht, die absondert und die wegnimmt.

WELCHE EINSICHTEN EINFACH UND WELCHE ZUSAMMENGESETZT SIND

Kapitel 31

Einfach nennen wie die Einsicht genauso wie bestimmte einfache Handlungen oder Zeiträume, die durch keine aufeinander folgenden Anteile verknüpft sind; falls das Gegenteil vorliegt, nennen wir sie zusammengesetzt. Denn das Wesen der Einsichten ist so wie das Wesen der Gespräche, die Einsichten hervorrufen. So wie selbstverständlich die einen Gespräche einfach sind - einzelne Formulierungen - , die anderen zusammengesetzt, z. B. die Reden, die zwangsläufig aus verschiedenen Formulierungen, die ihre jeweilige Einzelbedeutung inne haben, so sind auch die Einsichten, die aus Gesprächen entstehen, entweder nach der Einrichtung derselben bald einfach (dann müssen sie freilich auch aus einfachen Gesprächsinhalten bezogen werden), bald zusammengesetzt (aus zusammengesetzten Gesprächen).

Kapitel 32

So nämlich, wie der, der spricht und sagt der Mensch geht spazieren mehrere bedeutsame Einzelformulierungen durchläuft, so durchschreitet der, der dies hört, aus den Einzelworten ganz eigene Einsichten durch Aneinanderreihung. Zunächst begreift er Mensch, wenn er Mensch hört - ein Wort, das zur Bezeichnung des Menschen aufgestellt worden ist; danach spazieren gehen, wenn er er geht spazieren hört, wobei der dies mit Mensch verbindet.

Kapitel 33

Man achte darauf, was wir gesagt haben: Eine einfache Einsicht besteht nicht darin, dass sie überhaupt keine Teile hat, sondern dass sie keine Teile durch zwangsläufige Reihenfolge hat. Oft nämlich begreifen wir durch ein Einzelwort mehr, z. B., wenn wir hören zwei oder drei oder auch dies Wort mehrere, wir begreifen Volk oder Herde oder Haufen oder Haus und jedem beliebigen Begriff, der viele Dinge umfasst - sei es in der Quantität der zusammenkommenden Teile oder in der Koinzidenz von Stoff und Gestalt. Denn der Begriff Mensch bestimmt gleichzeitig sowohl Stofflichkeit des Lebewesens als auch Vernunftbegabtheit und Sterblichkeit; aber all das wird nicht durch Aneinanderreihung, sondern im Begriff selbst gleichzeitig begriffen.

Kapitel 34

Es stecken vielleicht auch mehrere Handlungen zugleich in einer einzigen Einsicht eines einfachen Gespräches - entsprechend dem, was der Geist als Mehr erfasst, so dass er freilich aus einem jeden Sachverhalt, den er überlegt, eine Einzelhandlung vollzieht. Aber dennoch darf die Einsicht nicht weniger einfach genannt werden, wenn sie durch keine aufeinander folgenden Teile ausgesprochen wird; es können deshalb dieselben sowohl gleichzeitig durch eine einfache Einsicht erfasst werden als auch durch eine Einsicht, die durch Aufeinanderfolge zusammengesetzt ist. Denn drei Steine, die vor mir liegen, sehe ich bald gleichzeitig durch einen einzigen Blick, bald aber auch nacheinander (durch Aufeinanderfolge) und durch mehrere Blicke.

Kapitel 35

So verfährt man mit dem Sinneseindruck ebenso wie mit der Einsicht - derart, dass offensichtlich der Geist bald etwas gleichzeitig durch eine einzelne Einsicht sich vorstellt, bald aber auch als verschiedene Dinge durch verschiedene aufeinander folgende Einsichten. Und das ist - wie ich meine - auch der Unterschied der Einsichten bei Wort und Rede, auch wenn sie dieselben Dinge kennzeichnen, weil wir natürlich durch das Wort, das sich aus keinen Einzelbedeutungen zusammensetzt, alles wie gleichzeitig begreifen; durch die Rede aber sammeln wir dasselbe - eines nach dem anderen.

Kapitel 36

Ein Beispiel: Wenn gemäß der Sachlage der Sinn des Begriffes Lebewesen und seine Begriffsbestimmung belebter, gefühlsbegabter Körper dasselbe ist, so unterscheidet sich gemäß dem Gesagten die Art und Weise, wie wir Einsicht gewinnen, weil wir durch den Begriff alle drei Komponenten gleichzeitig, durch die Definition aber nacheinander begreifen, so wie wir die Worte selbst nacheinander hören und dabei eher auf das Wesen des Körpers achten, wenn wir Körper hören, und erst in zweiter und dritter Linie auf die Eigenschaft von beseelt und gefühlsbegabt.

Kapitel 37

Es ist deshalb die Einsicht im Begriff und in der Definition auf gewisse Weise gleich und doch verschieden. Die Einsicht ist aber mit Sicherheit dieselbe nach der Wirkung der begriffenen Sachverhalte, weil wir offensichtlich mit der einen oder anderen Äußerung dieselben Dinge begreifen.

Kapitel 38

Verschieden ist sie jedoch, weil wir dort alles zugleich, hier jedoch nacheinander alles erfassen, wobei wir freilich Formen dem schon vorher begriffenen Stoff hinzufügen. Und da in beiden Einsichten das Wesen eines Lebewesens sauber erfasst wird - ebenso nach dem Stoff wie nach der Form, in welcher die ganze Verfassung des Lebewesens besteht - , kann man diese Einsicht des Begriffs Einsicht in verbundene oder zusammengesetzte Dinge nennen, nicht jedoch verbindende oder zusammensetzende Einsicht und - geradezu widersprüchlich - Einsicht aus dem Redezusammenhang.

Kapitel 39

In der Tat - wer den Begriff Lebewesen hört, hört gleichzeitig dreierlei: Körper und Beseeltsein und Empfindungsfähigkeit - so, wie es in der Substanz des Lebewesens verbunden vorliegt. Deshalb handelt es sich um eine Einsicht, welche die Dinge als bereits verbundene behandelt, um eine Einsicht der verbundenen Dinge.

Kapitel 40

Verbindend aber ist jene Einsicht, die durch Aufeinanderfolge und Fortschritt manche schon früher begriffenen Sachverhalte anderen, später begriffenen, hinzufügt. So z. B., wenn wir die Beseeltheit und die Empfindungsfähigkeit einer schon ursprünglich begriffenen Materie gleichsam als Formen durch die Einsicht hinzufügen, d. h., diese erst später als formgebend für das bemerken, was wir am Anfang als rein begriffen haben.

WORIN SICH WOHL DIE EINSICHTEN IN GETRENNTE DINGE VON EINSICHTEN ALS TRENNENDE UNTERSCHEIDEN

Kapitel 41

So wie ein Unterschied besteht zwischen der Einsicht verbundener Dinge und der verbindenden Einsicht - ist doch erstgenannte die Einsicht der Einzelformulierung, letztgenannte die Einsicht des Redeablaufs - , so gibt es auch eine Einsicht getrennter Dinge und eine trennende Einsicht. So, wie nämlich Lebewesen eine Einsicht verbundener Sachverhalte schafft, so schafft Nicht-Lebewesen - das ist ein nicht eingegrenzter Begriff und lautet: eine Sache, die nicht ein Lebewesen ist - eine Einsicht getrennter Dinge.

Kapitel 42

Und so, wie die Definition Lebewesen eine verbindende Einsicht schafft, so schafft die Beschreibung Nicht-Lebewesen eine trennende Einsicht, nämlich, dass es sich um eine Sache, die kein Lebewesen ist, handelt. In der Tat - in der Rede Sache, die kein Lebewesen ist beachte ich zunächst einfach eine Sache durch Prämisse dieses Begriffs, der eine Sache ist, später trenne ich durch die Anfügung die kein Lebewesen ist die Natur des Lebewesens von der Sache, so dass ich bereits die Sache gewissermaßen daraus begreife, dass sie kein Lebewesen ist.

Kapitel 43

So gibt es also Einsichten in die verbundenen und in die getrennten Dinge - nur jedoch bei den Einzelformulierungen. Verbindende oder trennende Einsichten sind dem Redeablauf vorbehalten. Erstere freilich sind einfach, letztere zusammengesetzt.

Kapitel 44

Es gibt sehr viele, die einräumen, dass einfache Einsichten überhaupt keine Teile haben, weder in der Aufeinanderfolge noch gleichzeitig. Derjenige, der mehr Dinge gleichzeitig erkennt, nimmt in einer einzigen einfachen Aktion alles zugleich wahr - so sagen sie.

Kapitel 45

Aber meiner Meinung nach dürfen wir nicht darauf beharren, dies nur zurückzuweisen; ich sehe jetzt den Entscheidungsgrund, entweder zuzustimmen oder abzulehnen. Das bis jetzt Gesagte - über die einfache oder zusammengesetzte Einsicht, oder über die Einsicht des Verbundenen und durch Verbinden, oder über die Einsicht des Getrennten und durch Trennen - soll jetzt genügen! Nun stellen wir Betrachtungen an über die alleinige und vielfältige Einsicht.

EINSICHTEN, DIE ALLEINIG UND DIE VIELFÄLTIG SIND

Kapitel 46

Alleinig, einzeln aber nennen wir alle Einsichten, die einfach sind oder auch zusammengesetzt, wenn sie aus einer Verknüpfung oder Teilung bestehen. Als vielfältig fassen wir eine Einsicht aus dem Gegensatz heraus auf, d.h., jede Einsicht, die Obengenanntes nicht aufweist.

Kapitel 47

Einzeln aber sind Verknüpfung, Teilung oder Trennung der Einsicht, wenn durch diese der Geist beständig - aus einem Denkimpuls heraus - voranschreitet und von einer Absicht gelenkt wird, durch welche er für das, was als erstes begriffen worden ist - durch Verknüpfung oder Trennung einer Sache oder durch Teilung von ihm selbst und einer Sache - , die gewissermaßen schon begonnene Laufbahn ohne Unterbrechung vollendet.

Kapitel 48

Dann aber hat der Geist eine einzige derartige Verbindung, wenn er irgendwelche Dinge so durch Aufeinanderfolge betrachtet, dass er diese so abwechselnd anpasst, dass er sie, in dem er sie durchläuft, zu einer Entität macht. Doch andererseits -wie oft auch immer er zur Kraft einer Einzelbestätigung abwechselnd und beliebig anderes verbindet, sei es durch Feststellung, sei es durch Verknüpfung mit einer Bedingung und einem Zeitpunkt oder auf irgend eine andere Art und Weise, dann bewirkt er die Einheitlichkeit, wobei dies freilich - wie oben allgemein erwähnt - durch einen Gedankenantrieb ohne Unterbrechung geschieht.

Kapitel 49

Doch lasst uns das, was wir angesprochen haben, mit ein paar wenigen Beispielen erklären: Wenn ich sage vernunftbegabtes Lebewesen und das in einem Atemzug oder beständig vortrage, so vernimmt der Hörer Lebewesen und Vernunftbegabung, so dass er einen Sachverhalt aus Lebewesen und Vernunftbegabung bildet, eben vernunftbegabtes Lebewesen. Trotzdem - wenn ich sage nicht-vernunftbegabtes Lebewesen, so zeige ich sowohl Lebewesen als auch nicht-vernunftbegabt auf, so dass ich sie dennoch zu einer Substanz verbinde, wobei ich darauf abziele, dass Lebewesen ebenso wie nicht-vernunftbegabt dasselbe sei. Es kommt deshalb an dieser Stelle, wenn vernunftbegabt gesagt wird, sowohl zu einer Verbindung als auch zu einer Trennung: Verbindung von nicht-vernunftbegabt zu Lebewesen und Trennung, d.h., die Entfernung von vernunftbegabt. Und es ist nicht wichtig für die Art der Auffassung oder die Alleinigkeit, ob es sich tatsächlich so verhält, wie es begriffen wird, oder nicht; es bezieht sich nur auf die Wahrhaftigkeit der Auffassung. Denn in gleicher Weise ist es eine Einsicht vernunftbegabter Stein oder weiße Chimäre wie vernunftbegabtes Lebewesen oder weißer Mensch. Von daher führen Redeinhalte letzterer Art gleichermaßen zu einer Annahme wie auch jene erstgenannten.

Kapitel 50

Eine Einsicht vorübergehender Verknüpfung verweigert ebenfalls nicht die Alleinigkeit in der Essenz, wenn man sagt Haus des Sokrates oder ähnlich dem Sokrates oder Sokrates anklagend oder aus Sokrates Nutzen ziehend. Denn die Unterordnung des von derselben Person abhängigen Falles darf nicht mit dem vorangehenden Wort erfolgen, so dass sich offensichtlich derselbe Sachverhalt für beide Worte aufdrängt; bestimmt doch das folgende Wort aus seiner Stellung heraus im Sachverhalt des vorangehenden Wortes eine gewisse Eigenheit der Konstruktion, woraus - wenn die Eigenheit zu diesem Sachverhalt passt - man einen geschlossenen Sachverhalt vernimmt. Wenn man nämlich sagt Haus des Sokrates, definiert gerade der Genitiv, abgesehen vom Eigennamen Sokrates, einen bestimmten Besitz in Bezug auf den Sachverhalt des vorangehenden Wortes, wenn es dieses Haus als gleichsam von Sokrates in Besitz genommen vorstellt; und es verhält sich mit Haus des Sokrates so, als wenn man sagte sokratisches Haus. Ähnlich bestimmen alle anderen abhängigen Fälle, die vorübergehend mit anderen Worten verbunden sind, bestimmte Eigenheiten in Bezug auf die Sachverhalte der vorangehenden Wörter -entsprechend der Art, wie sie sich zu den eigenen Sachverhalten verhalten.

Kapitel 51

Und so werden aus den Sachverhalten der vorangehenden Worte heraus und durch die Eigentümlichkeiten, die aus den Wortverknüpfungen bestimmt sind, manche Sachverhalte alleinig und kompakt als Einheit begriffen. Oft aber kommt es dazu, dass in einer Einsicht mehr Verknüpfungen, Teilungen oder Trennungen entstehen; und dennoch wird deshalb die Einheitlichkeit der Einsicht nicht aufgehoben, weil in der gesamten Einsicht die Vereinigung der Verknüpfung zu einem Ganzen vorliegt.

Kapitel 52

Wenn ich zum Beispiel sage ein spazieren gehender Mensch, der läuft oder ein Mensch, der läuft, geht spazieren, so handelt es sich um zwei Verknüpfungen. Die eine allerdings vom Lauf zu Menschen, dadurch, dass gesagt wird der Mensch, der läuft; die andere zum laufenden Menschen, wenn verknüpft wird er geht spazieren. Denn dies ist die richtige syntaktische Reihenfolge: der Mensch, der beim Spaziergang läuft, der Mensch, der läuft, ist gerade beim Spaziergang. Und es kommt in der Summe der ganzen Rede zu einer Verbindung, nämlich des Spaziergangs zum laufenden Menschen. Aber auch, wenn ich sage der Mensch, der läuft, ist der Mensch, der spazieren geht, so kommt es ebenso im übergeordneten Satz wie ihm untergeordneten Satz zu Verknüpfungen an sich. Aber weil sie dazu führen, dass durch sie selbst wiederum in der Summe der ganzen Anordnung eine Einzelverknüpfung entsteht, vom Mensch, der spazieren geht zum Mensch, der läuft, so führen sie auch zu einer Einsicht.

Kapitel 53

Wenn also mehr Konjunktionen in einer Einsicht so aufeinander treffen und alle einer Einsicht zuarbeiten und deswegen diese so behandelt werden, dass aus ihnen eine einzige errichtet wird, dann muss es notwendigerweise auch eine Einsicht ein, auf deren Erringung der Geist durch einen einzigen Gedankenimpuls anhaltend abzielt.

Kapitel 54

Von einer vielfältigen Einsicht aber sprechen wir, wenn viele gegenseitig losgelöste Einsichten vorliegen. Z. B., wenn ich sage Mensch Holz oder vernunftbegabt sterblich oder Lebewesen und - nach einer kurzen Pause - vernunftbegabt, so zeige ich durch die Wortpaare auf, dass sie als getrennte Einsichten nicht zur Auffassung eines einzigen Sachverhaltes passen. Jedes Einzelwort freilich führt zur Erfassung seiner Realität, wobei weder die eine noch die andere Realität so verknüpft werden, dass eine einzige Einsicht erfolgt. Bei den Einzelauffassungen kommt der Geist in der Tat immer wieder so auf sich zurück, wie wenn er bei diesen seine Auffassungsfähigkeit von Neuem in Gang setzt. Dies aber läuft beim Wechsel von dem einen zum anderen nur mit Unterbrechung ab; dadurch wird die Einheitlichkeit der Auffassung aufgehoben und die Kontinuität zertrennt.

Kapitel 55

Das, was wir über die Einheit und Vielfältigkeit der Einsichten gesagt haben, soll für den Augenblick genügen!

WELCHE EINSICHTEN GEHALTVOLL UND WELCHE INHALTSLOS SIND

Kapitel 56

Nun ist es an der Reihe - gemäß dem Titel unseres Vorhabens - zu unterscheiden, welche Einsichten gehaltvoll oder inhaltslos, welche auch wahr oder falsch genannt werden müssen. Gehaltvoll nennen wir freilich die Einsichten, durch welche wir so acht geben, wie die Realität sich verhält, sei es, jene sind einfach oder zusammengesetzt.

Kapitel 57

Inhaltslos werden die Einsichten aus dem Gegenteil heraus genannt, ebenso einfache wie zusammengesetzte, die wir häufiger Ansichten als Einsichten zu nennen pflegen. Von daher sagt Aristoteles: “Es handelt sich nicht um Ansicht, weil etwas ist, sondern, weil etwas nicht ist.“ Und Boethius sagt in seiner Schrift über Perihermenias: “Über den, der Falsches einsieht, darf man eher sagen, er lässt sich täuschen, als, er sieht etwas ein.“

Kapitel 58

Dennoch nennt Aristoteles sowohl wahre als auch falsche Auffassungen Einsichten, wo er doch in denselben Perihermenias offenkundig spricht: “Wie es aber in der Seele manchmal eine Einsicht ohne Wahres oder Falsches gibt, so liegt manchmal zwangsläufig auch eines von beiden vor...“ Und an anderer Stelle: “Denn die Wahrheit oder Falschheit steht in Bezug zur Zusammenstellung und Trennung.“ Inhaltsvolle Einsichten aber nennt Aristoteles in demselben Werk Ähnlichkeiten der Realitäten, d. h., sie fassen so auf, wie die Sachlage sich verhält, z. B., wenn ich Mensch begreife oder auch, dass der Mensch zum Lachen fähig sei, oder nicht.

Kapitel 59

Jede einzelne Einsicht ist inhaltsvoll, weil sie der Sachlage entspricht. Inhaltslos ist sie dann, wenn das Gegenteil vorliegt, wenn ich zum Beispiel die Chimäre, die es überhaupt nicht gibt, begreife oder begreife, dass die Chimäre existiert, obwohl es überhaupt nicht gibt - denn diese Einsicht einer Chimäre hat in Wirklichkeit keine zugrunde liegende Realität, welche es wert sei, gemäß einer derartigen Einsicht vernünftig überlegt zu werden, so dass freilich diese Sache wahrheitsgetreu als Chimäre betrachtet werden kann. Dann handelt es sich um eine völlig vernunftlose Einsicht. So könnte auch die Einsicht des Begriffs Mensch inhaltslos sein, wenn sich überhaupt kein existierender Mensch findet.

Kapitel 60

Wahr oder falsch nennen wir aber nur die Einsichten, die zusammengesetzt sind, ebenso die zusammensetzenden - als Einsichten der Bekräftigung -, wie die trennenden - als Einsichten der Verneinung. Dies alles entspricht Aristoteles - wie oben erwähnt: “Ebenso, wie es die Seele gibt...“ und “Denn in Bezug auf die Zusammensetzung..."

Kapitel 61

Wohlgemerkt: Wenn wir sagen, dass gemäß einer einfachen Einsicht ein Sachverhalt entweder wahr oder falsch überlegt wird - z. B., wenn ich eine Sache als Mensch oder Chimäre begreife - so darf man doch nicht annehmen, das wird das durch eine einfache Einsicht tun, da die einfache Einsicht selbst auffasst, dass etwas etwas sei, d.h., dass zum Begreifen einer keinesfalls existierenden Sache nur die zusammensetzenden Einsicht genügt, die durch Bestätigung ausgedrückt werden muss und nicht durch ein einzelnes Wort.

Kapitel 62

Deshalb ist es das eine, gemäß einer Einsicht etwas zu überlegen, das andere, durch eine Einsicht etwas zu überlegen, d.h., dass die Einsicht selbst genügt, irgendeine Verknüpfungen oder Trennung das Sachverhalte zu beachten, woraus die Einsicht selbst Überlegung genannt werden muss. Jene Einsicht, gemäß der etwas überlegt wird, ist der Teil der überlegenden Einsicht, indem die Kraft der gesamten Überlegung steckt; so auch die Einsichten der vorgenannten Ausdrücke, z. B., wenn wir darlegen, dass der Mensch ein Lebewesen sei und eine Perle ein gleichsam weißer Stein.

Kapitel 63

Der Subjekt-Ausdruck dient nur zum Erfassen des Sachverhaltes, den wir überlegen wollen; der Prädikat-Ausdruck aber wird gesetzt, um den Zustand zu beschreiben, gemäß dessen wir wollen, dass diese Sache überlegt wird, d.h. geachtet wird, entsprechend der Eigentümlichkeit jenes Zustandes, den wir damit verbinden. Deshalb nennen wir richtig - gemäß der Reihenfolge des Begreifens, nicht nur der Konstruktion - den Ausdruck Subjekt, durch welchen der Sachverhalt in der ersten Einsicht untergeordnet wird, die wir hierauf durch Verbindungen oder Entfernung einer anderen Sache überlegen werden. Diese Vereinigung oder Entfernung, Verknüpfung oder Abtrennung wird durch das Prädikat erreicht; in dieser Verbindung oder Entfernung des Prädikats nennen wir in Bezug auf das Subjekt das, was wir gerade darüber aufzuzeigen beabsichtigen.

Kapitel 64

Wenn wir also sagen Sokrates läuft oder Sokrates läuft nicht, antworten wir auf die Frage, von wem wir sprechen, mit von Sokrates; wenn aber einer fragt, was wir gerade über diesen sagen, antworten wir, dass derselbe laufe oder nicht laufe, was sich wohlgemerkt auf die Vereinigung oder Entfernung durch das Prädikat bezieht. Deshalb verwendet Aristoteles gesagt werden für festgestellt (prädiziert) werden, um klar aufzuzeigen, dass das Prädikat in Bezug auf das Subjekt gesagt wird, nicht umgekehrt, und dass das Prädikat das ist, was aus gesagt wird, und das Subjekt das ist, worüber etwas aus gesagt wird. Ausgesagt, ja gerade ausgedeutet wird freilich jenes, worüber durch eine Beifügung dazu etwas aufgezeigt wird. Deshalb sagte er, das Prädikat werde bezeichnet, wenn er im zweiten Buch Perihermenias sagt: “Wer etwas in Bezug auf etwas, nämlich die Essenz prädizierend, bezeichnet“. In demselben Werk nennt er eben die Verbindungen oder Entfernungen der Prädikate Beifügungen. Wie aber in dem, was gesagt wird, die Kraft der Verkündigung besteht, worin gerade diese gesteigert und verändert wird, so wird in der Einsicht eines Ausdrucks, der ausgesagt wird, d. h., prädiziert wird, die Kraft der überlegenden Intelligenz begründet.

Kapitel 65

Deshalb ist jede Einsicht, ob einfach wie Mensch oder zusammengesetzt wie weißer Mensch, entsprechend welcher eine Sache wahrheitsgetreu überlegt werden kann, stichhaltig, auch wenn sie durch eine Lautäußerung gekennzeichnet werden könnte, die von niemanden wahr verkündet werden kann, wie jeder, gesamte, beide. Bei der Einsicht gilt ebenso jeder oder gesamte als einfache Aussage, wie wenn gesprochen würde Menge aller Dinge, und beide wie diese oder jene zwei. Wenn wir also beachten, dass die Menge aller Dinge die Menge aller Dinge ist, so vollzieht sich die Überlegung gemäß der Einsicht dieser Begriffe jede oder gesamt. Und wenn wir beachten, dass diese zwei diese zwei sind, dann vollzieht sich die Überlegung entsprechender Einsicht dieses Relativbegriffes, nämlich beide. Denn die geteilten Begriffe haben in der Satzkonstruktion zusammen mit den ungeteilten Worten - in mehr kollektiver Form - dieselben Einsichten, haben jedoch in der Äußerung nicht denselben Wert, da diese über etwas prädizierten Begriffe durch Trennung, d. h. durch Versiegelung, alle die Dinge vereinigen, die zusammengehören. Nur deshalb heißen sie getrennt; erstgenannte Begriffe aber stehen in Verknüpfung, d. h., alles liegt gemeinsam vor, nicht als Einzelnes isoliert.

Kapitel 66

Ähnlich bewahren auch die Subjekte dieselbe Stellung in der Subjektion, die sie in der Prädikation haben. Wie offensichtlich durch diese, die getrennt sind, einzeln die Sachverhalte durch das Prädikat eingeordnet werden, geschieht durch erstere (die kollektiven) alles gleichzeitig. Dies sei der Unterschied zwischen Prädikatsbildung getrennter Sachverhalte und Subjektsbildung, dass diese positionsgebunden nur eine falsche Äußerung erzeugen, z. B., wenn ich sage beide sind beide oder das Gesamte ist das Gesamte, d.h., ein jeder Sachverhalt ist ein jeder Sachverhalt.

Kapitel 67

Aber sie weigern sich nicht, wahr subjiziert zu werden, z. B., wenn wir sagen jeder von beiden ist ein Mensch oder ein jedes ist etwas; dieselben Worte hängen vielleicht auch von der Einsichtsfähigkeit ab, wenn man sagt der Mensch und das Pferd oder der Mensch oder das Pferd. Sie scheinen sich allerdings nicht nur auf die Einsichtsfähigkeit, sondern auch auf die Konstruktion zu beziehen. Denn gleichermaßen erfasse ich verstandesmäßig beides, hier wie dort, als Mensch und Pferd. Aber in der Konstruktion bewirken diese beiden assoziierten Worte einen völlig unterschiedlichen Sinn. Es ist deshalb nicht zwangsläufig, dass die Worte, die in der Bedeutung völlig identisch sind, im Kontext der Konstruktion den identischen Wert besitzen. Von daher gehen wir jetzt näher auf die Konstruktionen ein.

Kapitel 68

Es gibt einen wechselseitigen Unterschied zwischen der teilenden, loslösenden und wegnehmenden Einsicht. Die teilende Einsicht steht für Negation und entfernt etwas von etwas anderem, wenn ich z. B. begreife der Mensch ist kein Pferd oder gesund ist nicht krank oder ein Stehender sitzt nicht. Loslösend steht für Bestätigung; diese Einsicht entfernt nicht von einem anderen, sondern legt sich aus mehreren verstandenen Sachverhalten auf nur einen fest, z. B., wenn ich begreife, dass etwas ein Mensch oder Pferd ist oder etwas gesund oder krank ist oder etwas steht oder sitzt. Und ähnlich werden alle Einsichten, die aus getrennten Hypothesen bestehen, unterscheidende genannt. Dies schafft die Kraft der loslösenden Verknüpfungen.

Kapitel 69

Ich halte es für unerlässlich, dass auch jenes untersucht und abgegrenzt wird, nämlich ob jede Einsicht, die anders, als sich der Sachverhalt verhält, wahrnimmt, inhaltslos oder leer genannt werden darf - andererseits, ob jede Einsicht, die einen Sachverhalt entsprechend dem, wie es sich verhält, erfasst, als stichhaltig eingestuft werden muss.

Kapitel 70

Wenn wir annehmen, dass dies so ist - und in der Tat scheint die Annahme angebracht -begegnen wir vielleicht manchen Unvereinbarkeiten. Jede durch Abstraktion erhaltene Einsicht nimmt eine Sache irgendwie anders wahr, als sie sich verhält. Und wenn sie diese anders, als sie sich verhält, beachtet, und eine Einsicht über eine Sache, die dem Sinneseindruck nicht unterliegt, nur mit Mühe zu gewinnen ist, wer würde diesen Sachverhalt nicht irgendwie anders erfassen, als er wirklich vorliegt? Durch Abstraktion erhalten nennen wir aber jene Einsichten, die entweder die Wesensart einer Form auch ohne Berücksichtigung der zugeordneten Stofflichkeit in sich selbst vorstellen oder jede beliebige Wesensart indifferent, ohne Unterscheidung ihrer Einzelteile, bedenken.

Kapitel 71

Wenn ich z.B. die Farbe eines Körpers oder die Kenntnis der Seele dem Eigengehalt nach beachte, d.h., nach dem, was die Farbe oder die Kenntnis ist, oder die Beschaffenheit oder, worin auch immer etwas unter Berücksichtigung der zugeordneten Substanzen zusammengesetzt sei, dann freilich abstrahiere ich durch die Kraft der Vernunft gewissermaßen die Formen von den zugeordneten Substanzen und stelle diese freilich allein in ihrem Eigenwesen mittels sich selber vor und achte nicht auf die dazugehörigen Subjekte. Aber wenn ich die menschliche Natur, die den einzelnen Menschen innewohnt, so unterschiedslos betrachte, dass ich auf die personale Unterscheidung eines Menschen achte, d.h., mir einfach einen Menschen ausdenke, freilich nur in Bezug auf das, was der Mensch ist, nämlich ein vernunftbegabtes, sterbliches Lebewesen, und nicht auch darauf achte, was dieser oder jener Mensch ist, dann abstrahiere ich das Allgemeingültige von den zugeordneten Einzeleigenschaften.

Kapitel 72

Es kommt also zu einer Abstraktion der höherrangigen Sachverhalte von den unterrangigen Sachverhalten, sowohl der Universalien von den durch Prädikation zugeordneten Einzeleigenschaften, als auch der Formen von den durch Gründung der Elemente zugeordneten Stofflichkeiten.

Kapitel 73

Subtraktion kann aber der entgegen gesetzte Ablauf genannt werden, wenn einer die den übergeordneten Sachverhalten zugeordneten Dinge (Subjekte) subtrahiert und durch Einsichtsvermögen wegnimmt und diese für sich, auch ohne die erstgenannten, betrachtet. Dies liegt vor, wenn einer sich bemüht, die Natur oder die beigeordnete Essenz ohne jegliche Form zu betrachten.

Kapitel 74

Beide Arten von Einsicht, die abstrahierende und die subtrahierende, scheinen die Dinge anders als der Realität entsprechend aufzufassen; wenn ich offensichtlich durch beide verknüpfte Sachverhalte getrennt begreife, obwohl sie nicht getrennt vorliegen, einmal die Stofflichkeit allein und durch sich selbst, im anderem Falle die Form allein betrachtend. Außerdem begnügt sich keiner, der einen Sachverhalt bemerkt, damit, diesen nach all seinen Wesenszügen und Eigentümlichkeiten zu bedenken, sondern nur nach einigen derselben. Wenn wir also einen beliebigen Sachverhalt nur nach einigen Wesenszügen und Eigentümlichkeiten bemerken, so verhält sich aber der Sachverhalt seinerseits nicht nur entsprechend denen, die wir in Betracht ziehen, und wir betrachten diesen Sachverhalt in der Tat ganz anders, als er ist.

Kapitel 75

Ein Beispiel: Dieser Körper ist ein Körper und ein Mensch und warm und weiß und unzähligen anderen Wesenszügen und Eigentümlichkeiten unterworfen. Doch bisweilen beachtet die Einsicht dennoch gerade dies nur darin, was Körper ist, nicht darin, was Mensch ist, oder was warm ist oder weiß; und so sieht unsere Einsicht in den einzelnen Sachverhalten, die sie beachtet, nur einen Teil, nicht die Gesamtheit der den Sachverhalten innewohnenden Eigenschaften. Andererseits - wenn jemand die körperliche Natur einfach und rein wahrnimmt oder eine beliebige Wesensart wie eine Universalie auffasst, d.h., unterscheidungslos, ohne jegliche personale Unterscheidung, diese auffasst, der begreift in der Tat diese Wesensart anders, als sie vorliegt. Nirgends liegt sie nämlich so unverändert, rein vor, wie sie erfasst wird. Aber, wo immer auch sie vorliegt, weist sie - wie besprochen - unzählige Wesenszüge oder Eigentümlichkeiten auf, die keineswegs beachtet werden. Und es gibt keine Natur, die unterschiedslos vorläge, sondern jede beliebige Sachverhalt an jedem beliebigen Wort ist personal unterschieden und findet sich zahlenmäßig doch als Einheit.

Kapitel 76

In der Tat - ist die körperliche Substanz in diesem Körper anders als dieser Körper selbst? Ist die menschliche Natur in diesem Menschen, nämlich Sokrates, anders als dieser selbst? Auf keinen Fall anders, sondern völlig identisch der Essenz nach.

Kapitel 77

Wer überdenkt nicht auch abwesende oder unspürbare oder nicht-körperliche Sachverhalte, die er durch keinen Sinneseindruck aufnimmt, bei weitem anders, als sie sind, selbst wenn er zu erkennen weiß, wie sie sich verhalten? Wer wird denn nicht, wenn er eine Sache in Anwesenheit erblickt hat, die er früher als abwesend ausgedacht hatte, finden, dass diese in vielerlei Hinsicht sich gegenteilig gezeigt hat im Vergleich zu dem, wie er sie sich ausgedacht hat? Wer erfasst nicht körperlose Realitäten auf die Art von körperlichen Realitäten, z. B., wenn er Gott oder die Seele überdenkt und dabei diese nicht nach Form oder Zustand des Körpers bemerkt, welchen gerade diese Sachverhalte, am allerwenigsten haben. Wer stellt sich nicht gerade die Geister wie örtlich unbegrenzt und mit Gliedmaßen und Farbe vor, und wer denkt nicht gerade diese auf unzählige andere Art und Weisen, die allein auf Körper zutreffen? Erhebt sich doch in der Tat - wie wir oben ausführlich in Erinnerung gerufen haben -die ganze menschliche Kenntnis aus den Sinneseindrücken. Doch hierzu - die Zustände der unfühlbaren Dinge auf die Art und Weise von den fühlbaren Dingen zu überdenken, treiben uns gerade die Erfahrungen des Sinne. Wenn also, so oft der Geist eine beliebige Sache anders begreift, als sie vorliegt, die Einsicht gegenstandslos genannt werden muss, welche menschliche Einsicht darf gemäß den dargelegten Vernunftgründen nicht gegenstandslos genannt werden?

Kapitel 78

Jetzt aber wollen wir uns einem anderen Teil unseres Vorhabens zuwenden: Ob wohl jede Einsicht gehaltvoll heißen darf, die einen Sachverhalt seinem wirklichen Befinden nach begreift? Obwohl es so leicht von allen aufgefasst wird, bietet auch diese Ansicht so manchen Angriffspunkt.

Kapitel 79

In der Tat - derjenige, der begreift, dass dieser Mensch ein Esel ist - was völlig falsch ist - begreift dieser nicht selbst in dem, dass er solches begreift, die Tatsache, dass gerade dieser Mensch ein Lebewesen ist und auch der Esel ein bestimmtes Lebewesen ist, was doch beides wahr ist? Wenn nämlich - nach dem Satz des Aristoteles im zweiten Buch Perihermenias - derjenige, der meint, d.h. begreift, dass Gutes gut ist zwangsläufig gerade die Auffassung hat, dass das Gute nicht schlecht ist, um wie viel wahrscheinlicher muss der, der begreift, dass dieser Mensch ein Esel, d.h. ein solches Lebewesen ist einräumen, dass er begreift, er sei ein Lebewesen - wenn das also so ist, dann wird im Esel notwendigerweise die Substanz eines Lebewesens begriffen, so wie es auch die Kraft des Spezialbegriffes Esel selbst bekennt, indem gerade etwas Allgemeines, nämlich Lebewesen, zwangsläufig durch das Einsichtsvermögen eingeschlossen wird. Doch in einem Gegensatz muss nicht notwendigerweise die Einsicht in einen weiteren Gegensatz bemerkt werden. Aber dadurch lässt sich in der Tat der, der begreift, dass dieser Mensch ein Esel sei, davon überzeugen, die Wahrheit zu begreifen. Und so trifft es sich, dass diese falsche Einsicht, die erfasst, wie die Sache sich verhält, als wahr eingeräumt wird. Aber nochmals - wer schreckte nicht davor zurück, dass die Wahrheit und Falschheit - gegensätzliche Ausprägungen der Einsichten - ein und derselben Einsicht innewohnend oder von derselben unteilbaren Seele zugleich aufrechterhalten werden?

Kapitel 80

Nun wollen wir die oben genannten Fragen lösen und gerade die Angriffspunkte, welche die Wahrheit zu verwirren scheinen, selbst in Angriff nehmen.

Kapitel 81

Die erste Frage, ob jede Einsicht, die einen Sachverhalt anders, als er sich verhält, bemerkt, gegenstandslos sei, kann auf zwei Arten verstanden werden. Denn auch, wenn ich sage, ich begreife diese Sache anders als sie ist, gibt es doppelten Sinn. Der eine liegt darin: Wenn ich so sagen will, dass eine Art im Begreifen des Sachverhalts liegt, die andere im Vorliegen dessen selbst. Z. B., wenn ich den Sachverhalt getrennt betrachte, obwohl er selbst nicht getrennt vorliegt, d.h., ohne etwas, ohne welches er selbst nicht bestehen bleibt; oder wenn ich so rein, unverfälscht betrachte, aber eine andere Art, ihn zu begreifen, habe, als er wirklich existiert. Und dieses ist der eine Sinn, wenn man sagt: ich begreife diese Sache anders, als sie ist, oder als sie sich verhält. Der andere Sinn liegt aber vor, wenn ich spreche: ich begreife diese Sache anders, als sie ist, d.h., ich betrachte sie in einem anderen Zustand als normal oder sich anders verhaltend als normal. In der ersten Bedeutung wird allerdings dieses Adverb anders an das Verbum einsehen wie als eine Variante dessen verbunden; in der anderen Bedeutung an das Partizip oder den Infinitiv des folgenden Verbums, was dazu führt, dass zu einem Unterton gerade dieses Verbum führt, so, als ob gesprochen würde: ich begreife den Sachverhalt als einen anders Seienden oder er sei anders, als er ist oder als sich anders verhaltenden oder er verhalte sich anders als normal. So kann also die oben stehende Frage verstanden werden, wenn klar gefragt wird, ob jede Einsicht, die eine Sache anders als normal begreift, gegenstandslos sei. Und nach dem unterschiedlichen Sinngehalt müssen auch unterschiedliche Antworten gegeben werden.

Kapitel 82

Wenn nämlich so gefragt wird, ob jede Einsicht, die eine andere Art des Bemerkens aufweist, als dem Bestehen der Sache entspricht, gegenstandslos sei, so darf man dem nicht zustimmen. Es gibt nämlich viele, unzählige Arten des Einsichtsvermögen in jede beliebigen Sachverhalte, die nicht deren Existenz entsprechen, wie aus Obengenannten deutlich wurde. Wenn aber so gefragt wird, ob jede Einsicht, die bemerkt, dass sich eine Sache anders zuträgt als in Wirklichkeit, inhaltslos sei, so ist die Antwort: ja! Dementsprechend muss man sich festlegen und antworten, wenn man gefragt wird, ob jeder, der sagt, dass der Sachverhalt sich anders verhält als in Wirklichkeit, Falsches sage. Wenn wir nämlich zu dem Verbum der sagt das Adverb anders verknüpfen und nicht zu dem Verbum sich verhalten, dann kann man nicht von einer Falschaussage sprechen. Wenn nämlich einer, indem er schnell spricht, über den, der langsam läuft, aussagt, er laufe, so sagt er folglich anders, dass jener dieses mache und nicht er selbst, weil er nämlich dies schnell spricht, was jener nicht schnell tut, während freilich dieser, indem dies sagt, schnell Worte vorträgt, wogegen jener den Lauf nicht schnell vollzieht.

Kapitel 83

Lasst uns jetzt zur Festlegung der anderen Frage übergehen, ob freilich jede Einsicht gehaltvoll genannt werden darf, die einen Sachverhalt wirklichkeitsgetreu begreift.

Kapitel 84

Man darf - so scheint es - nicht zustimmen, vor allem wegen oben stehender Einwände, es sei denn, wir fügen das Wort nur hinzu. Wenn wir aber so sprechen: jede Einsicht, die einen beliebigen Sachverhalt nur so wahrnimmt, wir vorliegt, muss inhaltsvoll genannt werden“, so wird sofort von allen verstanden, dass für den einen Fall, dass ich begreife, dass Sokrates ein Lebewesen ist oder dass er kein Esel ist, auf diesem allein meine Einsicht beruht, oder auch für den anderen Fall, dass ich begreife, dass nur ein bestimmtes Lebewesen ein Esel ist, d.h. , welch bestimmtes Lebewesen der Esel ist. Wenn ich aber begreife, dass Sokrates eine vernunftloses Lebewesen ist, so begreife ich nicht nur auf jene Art, dass es wirklich so ist, weil ich dadurch, dass ich vernunftlos anfüge, die Art, von der Sokrates ist, überschreite und verlasse.

Kapitel 85

Ein jeder, die eine Sache allein auf die Art, wie sie wirklich ist, begreift, hat diesbezüglich eine stichhaltige Einsicht. Aber nicht deshalb ist es zufällig notwendig, einfach einräumen zu müssen, dass freilich ein jeder, der eine Sache wirklichkeitsgetreu begreift, eine stichhaltige Einsicht hat, wenn wir nicht zufällig hinzufügen: dadurch, dass er jenes begreift.

Kapitel 86

Denn falls ich zufällig begreife, Sokrates ist eine vernunftloses Lebewesen, habe ich darin, dass ich bemerke, dass er selbst ein Lebewesen ist, was wahr ist, eine wahre Einsicht, die wiederum Teil einer zusammengesetzten falschen Ansicht ist, aber nicht darin, dass ich bemerke, dass dieses Ganze ein vernunftloses Lebewesen ist.

Kapitel 87

Falls jemand einwenden sollte, dass man aus demselben Grund einräumen müsse, dass der, der begreift: Sokrates ist ein Esel, d.h., ein solches vernunftloses Tier, eine wahre oder stichhaltige Einsicht dabei hat, dafür, dass er begreift, dass dies ein Lebewesen sei, so darf man nicht auf diesen hören! Weil nämlich dieser Begriff Esel, ein Einfach-Wort, eine einfache und nicht anteilig zusammengesetzte Einsicht hat, können wir nicht bei seiner Verlautbarung Einsichten von verschiedenen Äußerungen unterscheiden, so dass wir eine von diesen stichhaltig nennen könnten. Wir kennzeichnen und vereinigen in der Tat die ganze Substanz oder Natur des Esels zugleich in dem Begriff Esel, und nicht teilweise.

Kapitel 88

Man pflegt gegen das Gesagte einzuwenden, dass jeder, der begreift, dass Sokrates ein Esel ist, begreift, dass ein bestimmtes Lebewesen der Esel ist und jeder, der begreift, dass ein bestimmtes Lebewesen der Esel ist , das Wahre erfasst und so jeder, der begreift, dass Sokrates ein Esel ist, das Wahre begreift. Wir geben leicht zur Antwort, dass freilich, wenn der mittlere Ausdruck in eben diesem Sinn verwendet wird, die Zusammenfassung überhaupt fest ist. Dann aber -je nach unterschiedliche Annahme desselben - wird bald die eine, bald die andere der vorweg geschickten Darstellungen zu billigen sein.

Kapitel 89

Ist aber der mittlere Ausdruck: er begreift, dass ein bestimmtes Tier der Esel ist, so scheint auch dieser doppeldeutig zu sein. Zum einen, wenn wir so sagen, er begreift über ein bestimmtes Tier, dass es ein Esel ist, so ist die erstere Darlegung wahr und die Annahme falsch. Zum anderen, wenn wir so sprechen, er begreift das, dass manches Lebewesen ein Esel ist, und genau er hat die Einsicht dieser im besonderen affirmativen Darstellung: ein bestimmtes Tier ist ein Esel, so ist die erste Darstellung falsch, die Annahme wahr.

Kapitel 90

Wir können vielleicht sagen - und das nicht ohne Grund -, dass keiner, der begreift, Sokrates sei ein vernunftloses Lebewesen, dabei begreift, er sei ein Lebewesen, so scheint in der letzteren ganzen Einsicht erstere gleichsam als Teil enthalten. Freilich sagen wir auf diese Art und Weise begreifen, wie wir sagen darstellen. Aber diese ganze Darlegung Sokrates ist ein vernunftloses Lebewesen legt nicht dar: Sokrates ist ein Lebewesen, sondern einen Teil desselben. So, wie nicht dieser Syllogismus: Wenn Sokrates eine Perle ist, ist Sokrates ein Stein darstellt, dass Sokrates eine Perle und ein Stein ist. Andernfalls würde diese Schlussfolgerung das Falsche darlegen, jene Darlegung aber das Wahre. So begreift weder der, der einsieht, Sokrates sei ein vernunftloses Lebewesen, in diesem Ganzen das Lebewesen sein, da in diesem allein seine geistige Bemühung sich nicht erstreckt, noch begreift der, der in dem Satz: Wenn Sokrates eine Perle ist, ist er ein Stein begreift, dass Sokrates eine Perle und ein Stein ist; und man sagt nicht dort von einem, dass er richtig für die ganze geistige Erfassung begreift, sondern nur für jene Erfassung, in welcher gerade die geistige Anstrengung und deren Entfaltung erfüllt und vollendet wird.

Kapitel 91

Deshalb ist es nicht notwendig, wenn ich ein Konzept einer Einsicht habe, dass man von mir sagt, auf welche Weise ich jenes begreife. Und wenn Begreifen einfach das von einer Einsicht Entnommene sei, so heißt es dennoch nicht deshalb Begreifen, dass es das Entnommene von einer Einsicht dieser Sache sei. Da - wie wir oben vermerkt haben - Begreifen nicht heißt, einfach diese Einsicht zu haben, sondern so zu haben, dass zusätzlich die geistige Anstrengung dort eingegrenzt und vollendet wird. Denn auch Bezeichnen bedeutet dasselbe wie eine Einsicht festzulegen, während Etwas Bezeichnen nicht dasselbe ist, wie eine Einsicht darüber festzulegen. Wenn obendrein einzelne Gesprächsverläufe, aber auch Einsichten wie Sachen, kennzeichnen sollen, setzen sie dennoch nicht in Bezug auf die Einsichten wiederum andere Einsichten fest.

Kapitel 92

Häufig pflegt man über die Bezeichnung und Einsicht der Universalbegriffe zu fragen, welche Sachverhalte sie offensichtlich zu bezeichnen haben oder welche Sachverhalte in ihnen begriffen werden. Ebenso, wie man fragt, wenn ich den Begriff Mensch höre, welcher mehreren Sachverhalten gemeinsam ist, zu welchen er sich gleich verhält, welchen Sachverhalt ich gerade in diesem begreife. Wenn man darauf in dem Maße, wie sich gehört, antwortet, dass gerade darin Mensch begriffen wird, so bleibt die Frage übrig, auf welche Weise dies wahr ist, und wenn man nicht dort diesen oder jenen oder irgendeinen anderen Menschen begreift, da bekanntermaßen freilich jeder Mensch entweder dieser oder jener und ein anderer ist.

Kapitel 93

Wenn nämlich - so sagt man - ein Mensch gefühlsmäßig erfasst wird, muss notwendigerweise entweder dieser oder jener oder ein anderer empfunden werden - dadurch freilich, dass jeder Mensch dieser, jener oder ein anderer ist -, so raisonnieren sie auch bezüglich der Einsichten wegen der Ähnlichkeit zu den Sinnen, dass offensichtlich, wenn man Mensch begreift, man zwangsläufig diesen oder jenen oder einen anderen begreift. Darüber hinaus lautet Mensch nicht anders als ein gewisser Mensch. Daher begreift der, der Mensch begreift, in der Tat einen bestimmten Menschen und so begreift er diesen oder einen anderen. Dies ist ganz offensichtlich falsch.

Kapitel 94

Hierauf, glaube ich, muss man antworten, dass man, wenn wir richtig begründen wollen, sorgfältig auf die Bedeutungen der bezeichneten Äußerungen achten muss, so dass wir dementsprechend die Kraft der Umschreibung sorgfältig unterscheiden können. Wenn wir also sagen, der Mensch wird begriffen, so liegt folgender Sinn vor: Jemand erfasst durch Einsicht die Natur als menschlich, d.h., als ein solches Lebewesen. Wenn man dann so weiter schreitet: Jeder Mensch ist dieser und ein anderer, also diesen und einen anderen auffasst, so macht man nicht richtig den Syllogismus. Man hätte vielmehr so sprechen sollen: Aber jeder, der Mensch begreift, begreift diesen oder jenen. Dann würde freilich richtig der mittlere Ausdruck bewahrt und die Verknüpfung der äußeren würde durch diesen richtig vorankommen. Aber die Annahme wäre falsch. Wenn in ähnlicher Weise gesagt wird: Die Kape wird von mir ersehnt, d.h., Ich ersehne eine Kape, dann kann jede Kape diese oder jene sein, woraus dennoch nicht folgt, dass ich diese oder jene ersehne. Wenn aber so gesprochen wird: Ich ersehne eine Kape, und ein jeder, der eine Kape ersehnt, ersehnt diese oder jene, dann allerdings kommt die Argumentation gut voran. Denn wenn einer sagt, dass aus demselben Vernunftgrund man nicht jede syllogistische Umschreibung zulassen darf, dass, wenn ich einen Menschen fühle, ich diesen oder jenen fühle, da jeder Mensch dieser oder jener ist, so gebe ich zu, dass es keine starke Konstruktion ist. Trotz des Wesens des Sinneseindrucks selbst, der nur bei einer existierenden Sache ausgeübt sein will, kann man nicht zugeben - wie ich meine -, dass der, der einen Mensch fühlt, diesen oder jenen fühlt. Andererseits aber kann eine Einsicht nicht weniger gewonnen werden, nur weil kein Realitätsbezug besteht - weil wir auch Vergangenes durch das Gedächtnis erinnern und Zukünftiges durch Voraussicht erfassen. Und auch, was niemals existiert, wähnen und erdichten wir bisweilen wie eine Chimäre, dem Kentaurus, die Sirenen oder das Einhorn.

Kapitel 95

Es ist deshalb nicht notwendig, dass ich, wenn ich Mensch begreife oder ein Konzept habe, in welches ich das menschliche Wesen zusammenfasse, diesen oder jenen Menschen beachte, da es auch andere und unzählige Konzepte gibt, in denen das menschliche Wesen erdacht wird. So verhält es sich auch mit dieser einfachen Auffassung des speziellen Begriffs Mensch oder einfach weißer Mensch oder sitzender Mensch oder auch gehörnter Mensch, auch wenn es jenen niemals gibt. Und in welchen Auffassungen auch immer das Wesen des Menschseins bemerkt wird, sei es mit Unterscheidung einer gewissen Person wie Sokrates oder eines anderen, sei es ohne Unterschied, natürlich auch ohne Gewissheit einer Person.

Kapitel 96

Vielleicht fragt auch einer folgendes: Wenn ich höre jeder Mensch, begreife ich auch jeden Menschen, z. B., wenn von zweien gesagt wird, dass der eine von ihnen läuft, begreife ich, dass einer von ihnen läuft, oder wenn gesagt wird, die Chimäre, die weiß ist, begreife ich die Chimäre, die weiß ist, so, wie wenn ich höre Chimäre und diese begreife oder wie wenn ich den Begriff nicht einsichtsfähig höre, ich diesen auch als nicht einsichtsfähig begreife?

Kapitel 97

Doch in der Tat - wer würde nicht annehmen, dass ich, wenn ich jeden Menschen begreife, d.h., einen jeden einzelnen, nicht auch den vor mir begreife. Wenn nicht zufällig einer offen bekennt, dass er jeden Menschen begreift und so spricht, dass er eine Auffassung dieses Ausdrucks jeder Mensch hat - was allerdings wahr ist - , auch wenn er weder diesen noch jenen unterscheidet. Denn auch, wenn wir sagen, dass diese Annahme jeder Mensch läuft aussagt, dass jeder Mensch läuft, so nehmen wir dennoch nicht an, was die Annahme unterstellt, dass Sokrates läuft oder Platon. Sonst wäre die Annahme vielfältig, nicht eine einzelne, wie Aristoteles berichtet. Es erscheint uns dennoch, dass man nicht richtig sagen kann, dass einer jeden Menschen begreift, wenn er nicht auch Sokrates und andere Einzelpersonen beachtet, was meinem Dafürhalten nach niemand vollständig könnte.

Kapitel 98

Aber, wenn man sagt, der eine dieser beiden da läuft, d. h., ein Bestimmter von ihnen läuft, so scheint man nicht einräumen dürfen, dass man begreift, dass einer von diesen läuft, sondern eher, dass beide nicht laufen, da man freilich begreift, dass weder dieser noch jener läuft. Und wenn man sagt, ein gewisser Mensch läuft, sagt man dort lieber, keiner als ein gewisser läuft, da offensichtlich weder dieser benannt wird, dort zu laufen, noch jener.

Kapitel 99

Worauf man antworten kann, dass diese Darstellung beide laufen nicht zwei Sinne hat. Den einen offenbar hypothetisch, von der getrennten Art: Entweder läuft dieser oder läuft jener. Den anderen von der Kategorie der getrennten Subjekte, wie wenn man sagt: Dieser oder jener läuft. Wenn man auch so spricht: ich begreife, dass einer von diesen beiden da läuft oder ich sage, dass ein bestimmter Mensch läuft, so sind es zwei Empfindungen in jedem einzelnen Vorhaben. Die eine, dass ich begreife, dass einer von beiden läuft, oder dass ich sage, dass ein Bestimmter läuft. Die andere Empfindung, weil ich von einem von beiden begreife, dass er läuft; d.h., dass jener läuft, oder ich sage in ähnlicher Weise von einem bestimmten Menschen, dass er läuft. Und nach der ersten Sinnrichtung muss man zugeben, was gefragt wurde, nicht jedoch nach der zweiten. Aber vielleicht auch, wenn man sagt: Ich begreife, dass niemand von beiden läuft oder ich sage, dass kein Mensch läuft, gibt es mehr Sinnrichtungen in den einzelnen Darstellungen - davon eine zustimmende und zwei verneinende. Wenn es nämlich so aufgefasst wird: Ich begreife, dass keiner von beiden läuft oder Ich sage, dass keiner läuft, so ist dies ein affirmativer Sinn. Wenn aber so aufgefasst wird: Ich bemerke keinen von beiden, wie er läuft, d.h., Ich begreife nicht, dass einer von beiden läuft oder so: Ich begreife weder, dass dieser läuft, noch, dass jener läuft, so sind das zwei negative Sinnrichtungen; die erste Sinnrichtung besteht aus einer Verneinung, abgetrennt von der Bejahung, wie wir oben eingeräumt haben. Ähnlich muss man über das bereits Gesagte befinden: Ich sage, dass kein Mensch läuft.

Kapitel 100

Es handelt sich um die Frage, ob ich, wenn gesagt ist, die Chimäre, die weiß ist wohl eine Chimäre begreife, die weiß ist. Denn man darf keinesfalls zustimmen, sollte es auch wahr sein, dass ich über diese Formulierung Chimäre, die weiß ist eine Einsicht habe. Ein solches ist nämlich Ich begreife eine Chimäre, die weiß ist oder wenn man sagt Ich habe eine Auffassung, nach der ich eine Chimäre erdenke, und diese selbst ist weiß. Wenn aber gesagt wird: Ich begreife weiße Chimäre, kann es wahr sein, wenn ich offensichtlich Einsicht in die Formulierung Die Chimäre ist weiß gewinne.

Kapitel 101

Jenes scheint auch anders eingeräumt werden zu müssen, weil ich, wenn ich diesen Begriff nicht begreifbar höre, nicht begreifbar begreife, d.h., ich habe eine solche Auffassung, mit der ich etwas ausdenke als gleichsam nicht begreifbar. Wenn aber so formuliert wird: Ich begreife das Nicht-Begreifbare, d.h., Ich habe die Einsicht von etwas und jenes kann aber nicht begriffen werden, so ist dies völlig falsch. Und dies ist vielleicht mehr die eigentliche Sinnrichtung. Aber auch, wenn wir sagen: Das hier oder das da ist nicht teilbar, so scheint, wenn einer deswegen sagt, dass ein Nicht-Teilbares geteilt wird, überhaupt keine wahre Sinnrichtung vorzuliegen. Oder ähnlich: Wenn ich sage: Sokrates ist nicht verkündbar von mehreren oder Sokrates ist das, was nicht von mehreren verkündet wird und ähnlich Platon; wenn wir deshalb sagen, dass nicht verkündbar von mehreren oder was nicht verkündet wird von mehreren nicht von mehreren verkündet wird, so scheint dies keineswegs wahr gesprochen zu werden. Wenn wir aber hinzufügen, dieser Allgemeinbegriff nicht-teilbar wird geteilt, oder dieser Allgemeinbegriff nicht verkündbar von mehreren wird von mehreren verkündet, so zeigt diese Anfügung den wahren Sinn, den wir beabsichtigen.

Kapitel 102

Es fragt vielleicht auch einer jenes, ob - wenn ich Chimäre begreife, und ein solcher Sinn vorliegt, dass ich eine derartige Auffassung habe - gesagt werden könnte, dass ich Chimäre begreife, welches seinerseits eine Einsicht ist. In der Tat stimmt es, dass ich eine Auffassung der Art habe, welche eine Einsicht ist. Doch wiederum - wer würde annehmen, dass ich Chimäre, die eine Einsicht ist begreife, wenn ich nicht auch Chimäre begreife, und jene eine Einsicht ist? Doch in der Tat, wenn Chimäre eine Einsicht ist, dann existiert sie auch selbst. Und wenn Chimäre ein solches Lebewesen benennt, dann steht fest, dass auch ein bestimmtes Lebewesen eine Einsicht ist.

Kapitel 103

Hierauf antworte ich, dass die Rede, wenn gesagt wird: Ich begreife die Chimäre oder Die Chimäre wird begriffen eine bildliche ist. Wenn ich aber sage: Ich begreife die Chimäre, die es gibt, geht man zu einer eigenen Aussage über, weil man schon durch die Formulierung Chimäre, die es gibt wie persönlich eine Sache behandelt, die als existent verfasst und dargelegt wird. Denn auch, wenn man sagt: die es gibt und nicht den es gibt, kommt es zu einer persönlichen Beziehung zu Chimäre durch das feminine Wort, welches dasselbe Geschlecht hat, und nicht zum Vorgang des Begreifens. Und man muss anmerken, dass es notwendig ist, dass - wenn diese beiden Formulierungen: Ich begreife die Chimäre und Ich habe eine solche Einsicht als Sinneseindrücke dessen gesagt sind - es notwendig ist, dass sie - verbunden an jede beliebige Sache - diese Einsicht ganz bewahren, weil oft die Sinngehalte dessen auch Gesprächsinhalte per se - mit Siegel - genannt werden, die dennoch in der Satzkonstruktion eine völlige andere Bedeutung haben.

Kapitel 104

Diese Aussagen über die inneren Vorstellungen, bzw. Einsichten, mögen soweit genügen!

Thesaurus - lateinisch-deutsch


abstrahens = ableitend, wegziehend, wegnehmend, abstrahierend
abstractio = Loslösung, Ableitung, Entziehung, Abstraktion
accidentia = Hinzutretendes, Akzidentien
actio = Handlung
affirmare = bejahen, bestätigen, bekräftigen
affirmatio = Bestätigung, Bekräftigung
animus = Geist
anima = Seele
animatio = Beseeltsein
appositum, appositio = Beifügung
assumptio = Annahme
attendere = achten, beachten, bemerken, wahrnehmen
cassus, vanus = inhaltsleer, gegenstandslos
casus obliquus = abhängiger Fall
chimaera = Chimäre, feuerschnaubendes Fabelwesen der alten Griechen
cogitatio = Denkvorgang, Denkablauf
complexio = Umfassung, Umschreibung
componens = zusammensetzend
compositus = zusammengesetzt
composita = zusammengesetzten Dinge
concipere = geistig erfassen, wahrnehmen, auffassen
conceptus, conceptio = Auffassung
conceptio rerum = Verfassung der Dinge, Sachlage
confusus = formlos, verworren, konfus
conjuncta = verbundene Dinge
conjunctio = Verknüpfung
consequentia = Schlussfolgerung, Syllogismus
contemplatio = stille Betrachtung, Kontemplation
credere = glauben
credulitas = Leichtgläubigkeit
definitio = Begriffsbestimmung, Definition
deliberatio = Überlegung
dictio = Sagen, Formulierung, Aussprache
dictiones significativae = bezeichnende Formulierungen
differentia = Unterschied, Unterschiedlichkeit
discretio sermonum = Unterscheidung der Formulierungen, sprachlicher Unterschied
disiungens = loslösen, unterscheidend
dispositio = (momentane) Verfassung
dividere = trennen, absondern, gliedern
divisa = die getrennten Dinge
divisio = Teilung
effectus = Wirkung
enuntiatio = Verkündigung
entia = Entität
essentia = Essenz, Seinsgehalt, das Sein als Solches
excessus mentis = Übersteigung des Verstandes
excogitare = ausdenken, bedenken
existimatio = Einschätzung, Dafürhalten
effectus rationis = Wirkung der Vernunft
falsus = falsch
fides = Glaube
figurativus und = bildlich, symbolisch
forma = Form, äußere Gestalt
habitus = Haltung
hircocervus = Bockshirsch, Fabelwesen
imaginatio = innere Vorstellung, Vorstellungskraft
impulsus mentis = Denkimpuls, geistiger Anstoß
inconvenientia = fehlende Übereinstimmung, Unvereinbarkeit
individuum = Unteilbares, Einzelteil, Einzelperson
indifferentia = Unterschiedslosigkeit
intelligere = einsehen, begreifen, verstehen
intellectus = Einsichten
intelligentia = Einsichtsfähigkeit, Einsichtsvermögen, Intelligenz, Auffassungsfähigkeit
intentio = Absicht
materia = Stoff, Stofflichkeit, Material, Gegenstand
multiplex = vielfältig
natura = Natur, Wesen, Wesenszug
naturae rerum = Wesenheiten, Wesenszüge der Dinge
negare = verneinen, in Abrede stellen
negatio = Verneinung, Negation
nisus animi = geistige Bemühung
nisus intelligentiae = Anstrengung unseres Einsichtsvermögens
nomen = Name, Begriff
nomen indefinitum = nicht eingegrenzter Begriff
nomen relativum = Relativbegriff
opinio =Ansicht, Meinung
oratio = Rede, Sprache, Redezusammenhang, Redeablauf
origo = Herkunft, Abstammung, Ursprung
passiones anime = Leidenschaften der Seele
plures = complures = mehrere
praedicatio = Nennung, Praedikation, Satzbeifügung, Feststellung
premissio = Vorausschickung, Prämisse
proprietas = Eigenbedeutung, Eigentümlichkeit, besondere Art, Eigenschaft
propositio = Annahme, Vorlage, Darlegung
propositum = Vorhaben, Entwurf, Zweck, Schema, Diskussionsgegenstand
qualitas = Beschaffenheit, Qualität
quam est = normal, wirklichkeitsgetreu, realistisch
quantitas = Menge, Quantität
ratio = Vernunft, Entscheidungsgrund
rationalitas = Vernünftigkeit, Vernunftbegabtheit
realitas = Wirklichkeit, Realität
recordatio = Erinnerung
res = Sache, Ding, Gegebenheit, Wirklichkeit, Realität, Sachverhalt
res compacta = geschlossener Sachverhalt
res corporalis = körperliche Realität
res subjecta = zugrunde liegende Realität
sanus = vernünftig, sachbezogen, gehaltvoll, stichhaltig
sermo = Gespräch, Formulierung, Rede, Redeabschnitt, Satz, Gesprächsverlauf
sensibilitas = Empfindungsfähigkeit
sensus = Sinneseindruck, Empfinden, Gefühl, Sinn
sensus verborum = Wortsinn
sententia = Sinn, Sinnspruch, Meinung, Lehrmeinung
scientia = Wissen
sigillatim = mit Siegel versehen, versiegelt, verbrieft
significare = kennzeichnen, bedeuten
significatio = Bedeutung, Sprachbedeutung, Bezeichnung
similitudo = Ähnlichkeit
simplex = einfach
speculari = vorspiegeln, vorgaukeln
speculationes = geistige Vorspiegelungen
spiritus = Geist
subicere = zuordnen
subjectum = Subjekt, Satzgegenstand, Zuordnung
subjectio = Subjektion
substantia = Substanz, Bestehensgrundlage
subtractio = Wegnehmen, Entziehen, Entfernung, Subtraktion
terminus = Ausdruck, Begriffsbestimmung, Grenze
unus = alleinstehend, alleinig
universalia = Allgemeinbegriffe, Allgemeingültiges, Universalien
verus = wahr
visus = Anschein, Anblick
vocabulum = gesprochenes Wort, Vokabel
vox = Lautäußerung, Wort, Äußerung
ypothetica disiuncta = getrennte Hypothesen


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