Ad puerum mirandi ingenii - An einen hochbegabten Knaben

Ein Gedicht Balderichs von Bourgueil, 1046-1130, gewidmet dem jungen Peter Abaelard?

© Werner Robl, Neustadt/WM, April 2001

Der Dichter

 
Abtei Saint-Pierre in Bourgueil heute. Die Kirche stammt aus dem 11./12. Jahrhundert und damit aus der Zeit Balderichs. Der bekannte Dichter-Abt Balderich von Bourgueil [1] wurde im Jahre 1046 in Meung-sur-Loire - einige Kilometer flussabwärts von Orléans - geboren. Er stammte aus einer Familie mittlerer Provenienz, über die nur wenig bekannt ist. Nach ersten Studien bei einem gewissen Meister Hubert stellte sich Balderichs Talent für die Musen - speziell für die Dichtkunst klassischer Tradition - heraus. Zu seinen weiteren Lehrern zählte auch ein Rainald, Marbod und Frodo und eventuell auch der berühmte Berengar von Tours. [2] Balderich wurde Benediktinermönch und avancierte nach 1078 zum Prior von Saint-Pierre in Bourgueil. Der Konvent lag gegenüber der Mündung der Vienne am rechten Ufer der Loire - zwischen Tours und Saumur. Im Jahre 1089 wurde er vom dortigen Kapitel zum Abt des Klosters gewählt. In die Jahre seines Abbaziates - zwischen 1089 und 1107 - , welches ihm den heute bekannten Beinamen Burgulianus oder Burguliensis verschaffte, fällt die reichste literarische Schaffensperiode des Abtes. In zahlreichen, meist in elegischen Distichen abgefassten Gedichten bedachte der Abt Freunde und Bekannte. Er war u. a. auch hautnaher Augenzeuge der Gründung Fontevrauds, welches in nur wenigen Kilometern Entfernung am anderen Ufer der Loire bei Cande um 1100 gegründet wurde. Mit Robert von Arbrissel, dem er später auf Bestellung Petronillas von Chemillé, der ersten Äbtissin Fontevrauds, auch ein literarisches Prosawerk, nämlich dessen Lebensbeschreibung, widmete, [3] dürfte er persönlich bekannt gewesen sein. Balderich hielt sich aber auch des öfteren in Tours, Blois, Angers, Saumur und den anderen Zentren des Loire-Tales auf und verkehrte auch mit diversen Größen seiner Zeit, allen voran Gräfin Adele von Blois, welcher er eine längere, panegyrisch-schwärmerische Ode widmete. [4] Besonders berühmt ist sein stellenweise amouröses Gedicht an eine Nonne namens Konstanze, welche er glühend verehrte. Im Jahre 1094 nahm er an dem berühmten Konzil von Clermont teil, auf welchem Papst Urban II. König Philipp I. von Frankreich und Bertrada von Montfort wegen Bigamie mit dem Kirchenbann belegte und zum ersten Kreuzzug aufrief.

Balderich war nicht frei von gewisser Eitelkeit und Streberei. [5] Ivo von Chartres beschuldigte ihn sogar simonistischer Praktiken, weil er 1095 versucht habe, mit Unterstützung der übel beleumundeten Bertrada von Montfort den Bischofsstuhl von Orléans zu erwerben. [6] Bei dieser Wahl ging Balderich leer aus. Im Jahre 1107 wurde er auf dem Konzil von Troyes auf Veranlassung von Papst Paschalis II. zum Metropoliten von Dol in der Bretagne gewählt. Balderich war mit dieser Wahl in der Folge nicht zufrieden. Mit der Mentalität der britokeltisch sprechenden Bevölkerung der nördlichen Bretagne kam er nicht zurecht. Scorpiones nannte er die Bretonen. [7] Die weitere Lebensgeschichte ist nur fragmentarisch überliefert. Balderich verließ häufig seinen Bischofssitz, auf dem er sich nicht sicher fühlte, und suchte benachbarte Regionen auf, z.B. die Normandie oder England. [8] Außerdem sind drei Reisen nach Rom bezeugt. [9] Im Jahre 1120 wurde er durch den päpstlichen Legaten seines Amtes enthoben. Er zog sich nach Saint-Samson-sur-Rille zurück. Im Jahre 1130 starb er in Préaux. [10]

Balderich von Bourgueil war ein begabter Dichter, der sowohl mehrere Prosawerke als auch zahlreiche lyrische Gedichte und Epitaphe hinterließ. In dem Versuch, seinen Werken Glanz und Schönheit zu verleihen, gingen ihm eine elegante Wortwahl und Metrik und Reimung über alles. Er sagte selbst, ein Lied werde unschön, wenn der Rhythmus fehle - nicht unähnlich einer vornehmen Geschichte, die an Wert verliert, wenn sie nicht gepflegt vorgetragen wird, und die ihres Adels verlustig geht, wenn sie nicht durch einen ausgefeilten Stil geschmückt ist. [11] Bei dem Versuch, möglichst kunstvoll zu stilisieren, ging er mit seinen literarischen Vorlagen nicht immer penibel um. Mitunter neigte er zu ermüdender Breite. Trotzdem zählen seine Werke zum Schönsten, was die Literatur des Loire-Tales im 11. und 12. Jahrhundert zu bieten hat. In ihnen erfährt man viele Details des damaligen Lebens, welche aufgrund der sonstigen Quellenlage unerkannt bleiben müssten.

 

Das Manuskript

 
Balderichs Gedichte sind in nur einem einzigen zeitgenössischen Manuskript aus dem 12. Jahrhundert erhalten geblieben, welches heute zu den Schätzen des Vatikan zählt (Codex Vaticanus Reginensis Latinus 1351). Es besteht aus 152, in loser und manchmal vertauschter Reihenfolge gehefteten Blättern, die aus dem Fond der Königin Christine von Schweden stammen. Ihr Erhaltungszustand ist stellenweise so schlecht, dass vereinzelt spätere Kopien zur Analyse herangezogen werden mussten. Im 17. Jahrhundert war die Gedichtsammlung Teil der Kollektion Alexandre Pétaus, welcher es an die genannte schwedische Königin verkauft hatte. Beim Tode der Königin fiel dieses Manuskript an den Vatikan, welcher es vorübergehend - von 1797 bis 1815, während der Französischen Revolution - der französischen Regierung überließ. Es existieren einige weitere, ausnahmslos spätere Kopien dieses Manuskriptes. [12] Die Gedichte wurden mittlerweile - zunächst unvollständig - in verschiedenen Duckfassungen editiert, [13] ehe im Jahre 1926 Abrahams erstmals eine einigermaßen komplette, kritische Edition schuf, die allerdings nicht frei von Transskriptionsfehlern ist. [14] Mittlerweile existieren auch revidierte Neueditionen. [15]

 

Das Gedicht

 
Unter der laufenden Nummer CLXXV (Edition Abrahams),  113 (Edition Hilpert und Tilliette) und findet sich eine 40-zeilige Elegie mit dem Titel Ad puerum mirandi ingenii, bestehend aus einer ununterbrochenen Serie von Distichen. [16] Es wendet sich an einen intelligenten Schüler mit dem Vornamen Peter. Kaum dem Knabenalter entwachsen, verfügte dieser Peter offenbar über so außerordentliche Begabungen, dass Abt Balderich von ihm erfahren hatte und sich daraufhin veranlasst fühlte, über seine Talente und sein Verhalten dichterisch zu reflektieren:

 

AD PUERUM MlRANDI INGENII

plurima fama refert quibus ut credamus oportet
et procul a vero plurima fama refert
fama quidem nostra Petre te celebravit in aure
o utinam sic te res faciat celebrem
o utinam de te nil rumor dixerit anceps
sis talis qualem te mihi fama refert
non natura tibi sed naturae moderator
quod sic mirandum praestitit ingenium
effugit illa tuum tantummodo littera pectus
quam non doctorum spiritus exposuit
quod stilus ipsorum scrutari non dubitavit
tu quoque scrutaris pervigili studio
quod legis aut audis memori sic mente retractas
ut recitantem te nil queat effugere
si placeat metricis alludere cuilibet odis
odis alludis cuilibet egregiis
sicut et audivi jamjam facundia tantum
ut vivas Ciceronem tibi suppetitat
miror et est mirum quod in his sic enituisti
rursus et in multis quae locus hic reticet
immo quod aetatem teneram sic exuperasti
ut juvenis canos jam doceas homines
hos aetas aditus si centenaria posset
impetrare sibi grande quidem fuerat
melodum cithara [*] vel jam quindennis adeptus
es bona tot pariter, Petrule, dante deo
quippe tuis meritis non debes id reputare
sed sua qui gratis dat, dedit, atque dabit
ipse nec invideo nec iniqui garrio more
sed grate gratias immolo reddo deo
laetor et exulto, congaudeo suscipienti
et dico danti gloria summa deo
tu quoque cui vel quem cantat mea pagina praesens
assenti mecum dicque deo quod ego
extolli noli neque praestes laudibus aurem
quatenus ipsa tuis attribuas meritis
suscipe dona dei gratanter gratificando
ipsum te gratis qui dedit ista tibi
sic etenim faciens non spernes simpliciores
tu quoque provectu supplice proficies

 

Formaler und inhaltlicher Aufbau

 
Formaler Aufbau:

Die lyrische Widmung ist ausschließlich in elegischen Distichen - jeweils ein daktylischer Hexameter, gefolgt von einem Pentameter - verfasst, wobei Balderich aus Gründen der Prosodie - wie auch in seinen anderen Gedichten - mitunter etwas von der antiken Verslehre abweicht. Nur sehr vereinzelt finden sich Reimformen, z.B ein Caudatus [17] in den Zeilen 15 und 16 - ...odis ...egregiis - oder leoninische Reime [18] - quod sic mirandum praestitit ingenium; si placeat metricis alludere cuilibet odis; quatenus ipsa tuis attribuas meritis.

Als Stilmittel verwendet Balderich von Bourgueil diverse Tropen und Figuren, wobei die nachfolgende Zusammenstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:

Tropen

Figuren

Inhalt

Inhaltlich ist das Gedicht in 4 Abschnitte gegliedert:

 

Freie deutsche Übersetzung

 
An einen hochbegabten Knaben!

Sehr viel trägt das Gerücht herbei, welchem wir Glauben schenken. Leider ist auch sehr viel Unwahres dabei. Dein außerordentlicher Ruf, Peter, ist uns zu Ohren gekommen! Hoffentlich entspricht dieser gute Ruf den Tatsachen! Oh wenn doch das Gerücht über dich nicht so Widersprüchliches berichtet hätte. Ich wünschte, du wärest so, wie mir dein Ruf verkündet!

Nicht die Natur selbst, sondern der, der sie weise leitet, hat dir einen bewundernswerten Verstand gewährt. Aus deinem Inneren heraus hast du jene literarischen Fähigkeiten entwickelt, die nicht einmal der Geist der Gelehrten aufbietet. Was ohne Zögern schreibend sie entwickeln, das erforschst auch du in wachsamem Eifer. Was du auch liest oder hörst, du prägst es dir so gut ein, dass du beim späteren Vortrag wirklich nichts übergehst. Wenn es einem einfiele, sich mit metrischen Gedichten zu versuchen - du lieferst du ihm spielend Oden von höchster Qualität. Wie ich gehört habe, verfügst du bereits über eine Rednergabe, in der du sogar Cicero gleichkommst. Ich wundere mich - und in der Tat ist es ein Wunder -, dass du darin so herausstichst und in Vielem mehr, was diese Verse stillschweigend übergehen. Ja, du überragst dein zartes Knabenalter derart, dass du - kaum ein junger Mann - den Menschen schon Regeln aufstellst. Auch wenn hundertfaches Alter sich diese Möglichkeiten eröffnete, noch immer wäre es etwas Großes. Das Lautenspiel beherrschst du bereits mit fünfzehn Jahren vollendet.

So viele Talente zugleich hat dir, mein kleiner Peter, dein Gott gegeben. Freilich darfst du dies nicht deinen eigenen Verdiensten anrechnen. Denn derjenige, welcher das Seine unentgeltlich gibt, hat es dir bisher gegeben und wird es künftig tun. Ich gönne es dir und schwätze nicht unbillig daher, sondern ich statte Gott im willkommenen Opfer meinen Dank ab. Ich jauchze voll Freude und bin außer mir, wenn er es annimmt, und ich rufe aus: "Dem spendenden Gott sei höchste Ehre!"

Auch du, dem zum Lob ich dieses Schriftstück gewidmet habe, mögest mir zustimmen und zu Gott beten wie ich. Werde nicht überheblich und höre nicht auf Lobeshymnen! Schreibe dieses dein Talent nicht deinen eigenen Verdiensten zu. Fasse es als Geschenk Gottes auf und bedanke dich bei ihm ohne Vorbehalt, denn er hat gerade dir all das aus freien Stücken gegeben. Wenn du dies tust, dann verachtest du nicht einfachere Charaktere! Wenn Du in Demut voranschreitest, wirst Du auch weiter Fortschritte machen!

 

Die Talente und Wesenszüge des Schülers Peter - Analogien zu Peter Abaelard

 
Die innere Aussage der Elegie zeigt erstaunliche Analogien zur Lebenssituation und den bekannten Fähigkeiten und Attitüden Peter Abaelards:

Die wenigen, hier aufgeführten Textstellen mögen genügen, um deutlich zu belegen: Zwischen dem hochbegabten Schüler Peter, den Balderich von Bourgueil in seiner Ode besingt, und dem jungen Peter Abaelard besteht eine frappierende Wesens- und Geistesverwandtschaft. Es sind nahezu die gleichen Talente und Interessenslagen, die beiden einen enormen Ruf verschafften. [30] Und es waren weitgehend dieselben Charakterschwächen, die ihnen von ihren Zeitgenossen verübelt wurden. Diese inhaltliche Kongruenz wird noch durch eine weitere formale Analogie verstärkt: Beide tragen den Namen des Apostelfürsten Petrus. Der Eigenname Peter war übrigens damals in der Hoch-Bretagne weitaus häufiger anzutreffen als im Anjou. [31] Die Attraktivität des Namens Peter - vor allem im Nantais - rührte daher, dass der jahrhundertalte Dom von Nantes eben dem Heiligen Petrus geweiht war. Nicht zuletzt diese Übereinstimmung des Namens führt zur berechtigten Frage, ob es sich bei beiden Peters etwa um ein- und dieselbe Person, um den einen Scholaren, der aus der nahen Bretagne ins Anjou übergewechselt war, gehandelt haben könnte? Dazu ist es nötig, noch etwas genauer den zeitgeschichtlichen und geographischen Rahmen abzustecken, in dem die beiden Personen desselben Namens dieses Scholaren-Dasein führten.

 

Die Schulzeit des Knaben Peter - Analogien zur Schulzeit Peter Abaelards

 
Peter Abaelard wurde etwa um 1079/1080 in Le Pallet in der Bretagne geboren. Der Historia Calamitatum nach hatte sein Vater, der Burgmann Berengar, sein Talent früh erkannt und ihm eine damals sicher nicht selbstverständliche sprachliche und literarische Früherziehung angedeihen lassen. [32] Als Abaelard das Knabenalter - pueritia - hinter sich gelassen hatte, verließ er als junger Mann - adulescens - sein Zuhause, um als Wanderscholar das Loiretal flussaufwärts zu ziehen. Er mag damals um die 14, 15 oder 16 Jahre alt gewesen sein. Die Metropolen der mittleren Loire scheinen eine große Attraktivität auf ihn ausgeübt zu haben, denn dort - in Angers, Saumur, Tours, Blois, Orléans und einigen Nachbarorten wie z.B. Vendôme oder Loches - war das Studium der Geisteswissenschaften weit fortgeschritten. In gehörigem Maße wurde dort die Dialektik gepflegt und gelehrt. In den meist öffentlichen, vielerorts erbittert geführten Disputen konnte sich auch ein bislang Namenloser aus der Provinz hervortun und sich einen Namen und einen Ruf verschaffen. Beeindruckt durch das wiedererstarkte Gedankengut der antiken Philosophie - eines Platon, Aristoteles, Seneca oder Cicero - durchwanderte der wissbegierige Abaelard die betreffenden Schulen und bildete sich fort: Mehrere Provinzen durchwanderte ich im wissenschaftlichen Disput, und ich ging hin, wo immer ich gehört hatte, dass das Studium der Dialektik gepflegt wurde; so wurde ich faktisch zu einem Nachahmer der Peripatetiker - proinde diversas disputando perambulans provincias ubicunque huius artis vigere studium audieram peripateticorum emulator factus sum. [33]

Roscelin von Compiègne war einer der Lehrer Abaelards, die namentlich bekannt sind. Er wirft Abaelard später vor: Du hast wohl die Wohltaten vergessen, die ich dir vom Knabenalter bis zur Jugend als dein Lehrer mit Rat und Tat erwiesen habe...in Tours und in Loches hattest du zu meinen Füßen, den Füßen deines Lehrers...Platz genommen - immemor et beneficiorum quae tibi tot et tanta a puero usque ad juvenem sub magistri nomine et actu exhibui oblitus...Turonensis ecclesia vel Locensis ubi ad pedes meos magistri tui ... tam diu resedisti. [34] Roscelin lehrte in Loches am Indre und in Tours an der Loire, zu dessen Domkapitel er gehörte, nachdem er in der Krondomäne in Ungnade gefallen war. Denn Roscelin war ein Freigeist, der sich aufgrund eines übersteigerten Nominalismus bei einem Teil der Orthodoxie unbeliebt gemacht hatte. Nachdem er irgendwann zwischen 1090 und 1092 in einem Konzil in Soissons wegen Trinitätshäresie rechtskräftig verurteilt worden war, musste er vorübergehend aus Frankreich (1092) - und anschließend auch aus England (1093) - emigrieren. Roscelins Unterricht in Loches und Tours dürfte somit in den Jahren nach dieser Verbannung - etwa ab 1093 oder 1094 [35]- stattgefunden haben. Wie er selbst erwähnte, hatte Abaelard damals das Knabenalter kaum hinter sich gelassen. Dieser dürfte somit um die 15 bis 16 Jahre alt gewesen sein.

Dies war exakt dasselbe Alter, welches Balderich von Bourgueil dem Wunderkind Peter zuschrieb: Das zarte Knabenalter hast gerade hinter dir gelassen und schon lehrst du als junger Mann den Erwachsenen die Gesetze.... als etwa Fünfzehnjähriger kamst du schon so weit - immo quod aetatem teneram sic exuperasti ut juvenis canos jam doceas homines....vel jam quindennis adeptus es... [36] Abt Balderich schrieb sein Gedicht irgendwann in den Jahren zwischen 1089 und 1107. Diese Jahreszahlen markieren die Eckdaten seines Abbaziates in Bourgueil. Somit stimmen die Zeiträume der Abfassung des Gedichtes, der Schulausbildung des Knaben Peters und des Wanderscholarentums Peter Abaelards weitgehend überein. Balderich, der damals bereits fast fünfzig Jahre und somit schon nahezu ein Greis war, berichtete übrigens mit keinem Wort, dass er den begabten Peter aus eigener Anschauung - etwa aus der eigenen Klosterschule heraus - gekannt habe. Er hatte nur von dessen Ruf - fama - erfahren. Somit muss sich dieser in einer der Schulstädte im Umkreis von Bourgueil aufgehalten haben. Abaelards Aufenthalt in Loches oder Tours, wo Roscelin lehrte, aber auch in Angers, an dessen Dom Saint-Maurice zur damaligen Zeit Archidiakon Marbod, der spätere Bischof von Rennes, und Ulger, der spätere Bischof von Angers, dozierten, ist durch Quellen nachgewiesen. [37] Sämtliche Orte lagen im Umkreis von Bourgueil - nicht mehr als ca. 60 km Luftlinie, einem Eintagesritt, entfernt. Im übrigen ist belegt, dass sich Balderich häufig in diesen Städten zu Besuchszwecken aufhielt. Dabei mag er von diesem famosen Peter Kunde bekommen haben.

Man darf also davon ausgehen, dass sich zur betreffenden Zeit und am betreffenden Ort auch Peter Abaelard aufgehalten hat. Weiterhin ist es statthaft, anzunehmen, dass dieser bis nach 1096 auch dort geblieben ist. Denn schon 1095 begann sich das Gerücht zu verbreiten, dass mit einem baldigen Eintreffen des Papstes Urban zu rechnen sei. Nach dem Konzil von Clermont im November 1095, auf welchem Urban II. unter anderem zum Kreuzzug aufgerufen hatte - Deus lo volt - wandte sich der Papst, ein gebürtiger Gallier, in der Begleitung von unzähligen Prälaten, Kardinälen, Bischöfen und Äbten in Richtung Loire-Tal, um dort im Frühjahr 1096 Angers, Vendôme und Tours zu besuchen. [38] Die gesamte geistige Elite des Landes war dort versammelt, als der Papst in öffentlichen Messen Altäre - z.B. den von Saint-Nicolas in Angers oder den von Sainte-Croix in Vendôme - weihte. Es ist anzunehmen, dass sich der junge Peter Abaelard dieses prächtige Schauspiel nicht entgehen ließ. Vermutlich stand er unter den Zuschauern - beseelt vom Ehrgeiz, selbst einmal aus den Niederungen des Daseins aufzusteigen in die intellektuelle Elite des Landes. Die Wissenschaften waren das einzige Schlachtfeld, wo dies einem Bretonen von mediokrer Abstammung gelingen konnte. Abaelard mag damals beschlossen haben, seinen Eifer nochmals zu steigern und - wie ein Robert von Arbrissel vor ihm, den er vielleicht als Prediger in der Papstmesse von Angers persönlich gehört hatte - in die Metropole Paris aufzubrechen, um dort weitere Karriere zu machen. Ab etwa 1100 ist er dann in Paris bezeugt. Am Rande sei vermerkt, dass wahrscheinlich zur selben Zeit - um 1095 - Heloïsa ganz in der Nähe geboren wurde. Doch dies ist eine andere Geschichte. [39]

 

Schlussfolgerung

 
Unter Berücksichtigung aller genannten Umstände ist es nicht nur möglich, sondern durchaus wahrscheinlich, dass Balderich von Bourgueil den die Schulen des Loire-Tals durchwandernden Peter Abaelard vor dem geistigen Auge hatte, als er sein elegisches Gedicht über die Talente und Gefährdungen des Wunderknaben Peter anfertigte. Es ist sicher, dass sich dieser zur entsprechenden Zeit und im entsprechenden geografischen Raum zu Studienzwecken aufhielt. Fast ebenso sicher ist es, dass er sich schon damals einen gewissen Ruf erwarb. Dieser mag sowohl seine Begabung als auch seine Aufsässigkeit gegenüber seinem Lehrer betroffen haben. 

Auf dem Deckblatt eines zeitgenössischen Manuskriptes von Abaelards Ethica, das im Kloster Prüfening bei Regensburg vor 1165 geschrieben worden war, fand sich eine originelle Anekdote über Abaelards Schülerzeit - von unbekannter, auf jeden Fall früher Hand. [40]

Primum grammatice et dialectice hinc divinitati operam dedit sed cum esset inestimande subtilitatis inaudite memorie capacitatis supra humanum modum auditor aliquando magistri Roscii cepit eum cum exfestinucatione quadam sensuum illius audire attamen imperavit sibi ut per annum lectionibus ipsius interesset...

Zuerst studierte er Grammatik und Dialektik, dann wandte er sich der Gotteslehre zu. Aber da er von unermesslicher Intelligenz, unerhörtem Gedächtnis und übermenschlicher Auffassungsgabe war, verlor er einst als Hörer des Meisters Roscelin die Geduld und Konzentration bei der Vorlesung. Trotzdem befahl ihm dieser, noch für den Rest des Jahres seinen Vorlesungen beizuwohnen...

Ist hier nicht gleichermaßen der Grund von Abaelards späterer Feindschaft seinem alten Lehrer gegenüber angegeben, und die Thematik von Balderichs Gedicht aufgegriffen? Der Zusammenhang drängt sich geradezu auf.

Der Skeptiker wird einwenden, dass sich ein derartiger Zusammenhang vermuten, keinesfalls jedoch beweisen lässt. Aber vielleicht wird er wenigstens zustimmen, dass sich der von Balderich besungene Schüler Peter in seinen positiven und negativen Qualitäten weitgehend als desselben Geistes Kind erwiesen hat wie Peter Abaelard. Insofern verdient das Gedicht des Abtes, das bisher in den Veröffentlichungen über Abaelard keinerlei Erwähnung fand, einen festen Platz in der Diskussion über Abaelards frühe Jahre. Wie hatte ihn Otto von Freising in dieser Lebensphase charakterisiert?

Dieser Peter stammte aus der Provinz Galliens, welche von ihren Bewohnern Bretagne genannte wird - ein Land, das Kleriker von Scharfsinn und Kunstbeflissenheit hervorbringt... Dieser Peter also beschäftigte sich vom Beginn des Erwachsenenalters an mit dem Studium der Wissenschaften und anderen Einfällen, war aber so anmaßend und vertraute nur auf seinen eigenen Verstand, so dass er sich kaum von der Höhe seines Verstandes zum Hören seiner Lehrer herabließ.

Petrus iste ex ea Galliae provincia, quae nunc ab incolis Brittannia dicitur, originem trahens - est enim predicta terra clericorum acuta ingenia et artibus applicata habentium... is, inquam, litterarum studiis aliisque facetiis ab ineunte etate deditus fuit, sed tam arrogans suoque tantum ingenio confidens, ut vix ad audiendos magistros ab altitudine mentis suae humiliatus descenderet. [41]

 

Anmerkungen

 

[1] Lat. Baldericus Burgulianus oder Burguliensis, franz. Baudri de Bourgueil.

[2] Berühmter Vorscholastiker; als Nominalist und Rationalist auch ein Vorläufer Peter Abaelards. Berengar von Tours lebte vom Anfang des 11. Jhd. bis 1088. Er war ein Schüler Fulberts von Chartres, Leiter der Domschule von Tours, Archidiakon am Dom von Angers, berühmt-berüchtigt wegen seiner Abendmahlslehre (Ablehnung der Transsubstantiation), weswegen er auf Betreiben Lanfrancs von Bec mehrfach, auch päpstlicherseits verurteilt wurde. Siehe z.B. Sudendorf, H., Berengarius Turonensis oder eine Sammlung ihn betreffender Briefe, 1850; Schnitzer, J., Berengar von Tours, sein Leben u. seine Lehre, 1890; Meuß, P.G., Die Abendmahlslehre Berengars von Tours vor dem Transsubstantiationsdogma v. 1215, Tübingen, 1955.

[3] Sogenannte vita Roberti, in: Mignes Patrologia Latina (abgekürzt PL), Band 166, Spalte 1043ff.

[4] Siehe auch: Tilliette, Jean-Yves, La chambre de la comtesse Adèle dans le ccxcvi de Baudri de Bourgueil, Romania, 102, 1981, 145ff.

[5] Siehe dazu: Walter, J. von, Die ersten Wanderprediger Frankreichs, Leipzig, 1903, Reprint Aalen, 1972, Seite 15ff.

[6] Siehe Brief Ivos von Chartres, PL Band 166, Spalte 1060.

[7] Siehe Balderich von Bourgueil, vita Roberti, PL Band 166, Spalte 1045.

[8] Siehe z.B. Ordericus Vitalis, Buch 9, Spalte 18, in: Le Prevost, Band 2, Seite 623.

[9] In den Jahren 1108-1109, 1116 und 1123. Siehe auch: Bouquet, Recueil des historiens de la France, Band 15, Seite 59ff.

[10] Zur Lebensgeschichte siehe auch: Abrahams, Ph., Baldericus Burguliensis, Les oeuvres poétiques 1046 - 1130, Kritische Edition, Paris, 1926, Introduction, 21.

[11] "Haud dissimiliter quaelibet nobilis historia nisi urbane recitetur, vilescit; nisi disertus eam coloraverit stylus a noblitate sua deperit..." Balderich von Bourgueil, Vita Hugonis, Prol. 1, in: PL Band 166, Spalte 1163.

[12] Z.B. Kopie von André Salmon, MS Bibl. Mun. Tours 891, MS BN Paris lat. nouv. acqu. 870, Kopie von Léopold Delisle, Collection Duchesne et Brequigny, Collection Mancel u.a.

[13] Zum Beispiel durch Duchesne, Mabillon, Migne, du Méril und Delisle.

[14] Abrahams, Ph., Les oeuvres poétiques de Baudri de Bourgueil, Paris, 1926.

[15] Hilpert, H., Carmina, Baldericus Burguliensis, Heidelberg, 1979. Auszüge der fr. Edition von Jean-Yves Tilliette wurden uns dankenswerterweise von C. Mews überlassen. Alle Editionen weichen an einigen Punkten etwas von einander ab, was jedoch in den meisten Fällen für das Verständnis schadlos bleibt. Hier wurde die jeweils am plausibelsten wirkende Lesart übernommen, was jedoch nicht suggerieren soll, dass damit das letzte Wort darüber gesprochen ist.

[16] 20 Hexameter, jeweils gefolgt von einem Pentameter.

[17] Ein endsilbiger Reim zwischen zwei zusammengehörigen Zeilen.

[18] Mittel- und Endreim in ein- und derselben Verszeile.

[19] Die folgenden Zitate - soweit nicht eigens vermerkt - sind den bekannten Editionen der HC entnommen, z.B. Monfrin, J., Abélard, Historia Calamitatum, Paris, 1959, oder: Hicks, E., La vie et les epistres, Pierres Abaelart et Heloys sa fame, traduction du XIIIe siècle, attribuée à Jean de Meun, avec une nouvelle édition des textes latins d'après le ms. Troyes Bibl. Mun. 802, Paris, Genf, 1991.

[20] Brief 2 Heloïsa an Abaelard, in: Hicks, E., a.a.O., Seite 50.

[21] Brief Fulkos von Deuil an Abaelard, in: PL Band 178, Spalte 371ff.

[22] HC, a.a.O.

[23] Otto von Freising, Gesta Friderici Imperatoris, Waitz, G., Simson, B., Hannover, 1912, Buch 1, Cap. 48, Seite 68f.

[24] Siehe z.B. Szövérffy, J., Peter Abelards Hymnarius Paraclitensis, 2 Bände, Albany 1975.

[25] Petrus Venerabilis ad Petrum Scolasticum Quendam, in: Constable, G., The letters of Peter the Venerable, Band 1, Cambridge, 1967, Seite 15f.

[26] Fulko von Deuil, a.a.O.

[27] Ebenda.

[28] Hicks, E., a.a.O., Seite 72f.

[29] Hicks, E., A.a.O., Seite 77.

[30] Der einzige Schüler des Loiretals, dem damals Ähnliches nachgesagt wurde, war Odo von Orléans, 1050-1113, der spätere Magister von Tournai und Bischof von Cambrai. Bereits um 1087 hatte er wegen seiner Begabung die Einladung als Magister nach Tournai erhalten. Um 1095 wurde er Mönch und anschließend Abt von Saint-Martin in Tournai, später Bischof von Cambrai. Auch er muss ein Wunderkind gewesen sein: "Hic a pueritia studiis literarum instanter intentus intra tempus adolescentiae tantum scientiae est adeptus, ut nemini sui temporis Francigenarum in ea judicaretur secundus: unde magistri potius quam discipuli nomine dignior habitus primo in urbe Tullensi scholasticos docuit...." Siehe: Bouquet, Recueil des Historiens de la France, Band 14, Seite 80. Ihn konnte Abt Balderich bei der Abfassung seines Gedichtes jedoch nicht vor Augen gehabt haben. Weder passt die Zeit noch der Eigenname; außerdem ist von Magister Odo nicht bekannt, dass er von gewisser Überheblichkeit gewesen wäre.

[31] Wenn man von Balderich's Abtei in Bourgueil einmal absehen will, welche ebenfalls dem Heiligen Petrus geweiht war.

[32] Siehe HC: "Patrem autem habebam litteris aliquantulum imbutum antequam militari cingulo insigniretur; unde postmodum tanto litteras amore complexus est, ut quoscumque filios haberet, litteris antequam armis instrui disponeret" z.B. in Hicks, E., a.a.O., Seite 3.

[33] Siehe HC, a.a.O.

[34] Brief des Roscelin an Abaelard, aus: PL Band 178, Spalte 360.

[35] Siehe z.B.: Mews, C., Peter Abaelard, in Authors of the Middle ages, Aldershot, 1995, Seite 10.

[36] Balderich verwendete ebenso wie Roscelin in seinem Schreiben den Begriff "juvenis" offenbar synonym mit "adolescentia", welche sich der "pueritia" anschloss, obwohl der Begriff "juvenis" oder "juventus" an anderer Stelle auch ein späteres Lebensalter beschrieb (ab dem 28. Lebensjahr). In beiden Fällen - Balderich verwendete ja an anderer Stelle sogar den Diminutiv "Petrulus", d.h. kleiner Peter - kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass hier die genannte Zeitspanne gemeint ist.

[37] Siehe obenerwähnten Brief Roscelins von Compiègne, und: Abaelard's Hinweis in seiner Theologia Christiana, Buyaert, E.M., Petri Abaelardi opera theologica, II, CCCM XII, Turnhout 1969, Seite 301. Auch De Rijk, L.M., Dialectica, Assen 1970, XX.

[38] Siehe u.a.: Becker, A., Papst Urban II. (1088-1O99), Monumenta Germaniae Historica 19, Stuttgart 1964.

[39] Siehe: Robl, W., Heloïsas Herkunft: Hersindis Mater, München, 2001.

[40] MS BSB München, CLM 14160. Das Manuskript befindet sich heute im Besitz der Bayerischen Staatsbibliothek München. Das Manuskript wurde im 18. Jahrhundert von Bonetus entdeckt und von Bernhard Pez im Jahre 1721 erstveröffentlicht. Siehe: B. Pezius, Thesaurus anecdotorum novissimus, Paris 1721.

[41] Otto von Freising, a.a.O.

[*] Hier weicht die angenommene Schreibweise von den Editionen Abrahams, Hilperts und Tilliettes ab, da das an dieser Stelle wohl verderbte Manuskript 1. "cithara", die Laute, anstelle von "citra" auswies (prima manus), 2. citra dem Versmaß nach auf der zweiten Silbe eine Kürze statt einer Länge erwarten ließe, 3. außerdem eine Konstruktion mit vel... vel... Alternativen auswiese, die der Kontext gar nicht widerspiegelt. Das nachfolgende "bona tot" bezieht sich u. E. auf den nachfolgenden Ablativus absolutus "dante deo". Weitere Varianten des verderbten Hexameteranfangs sind ebenfalls denkbar.


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