Gerald von Wales, 1146-1223: Eine Anekdote über Peter Abaelard

© Werner Robl, Neustadt, Juli 2002 - Update vom 11.01.03

Spärlich sind die zeitgenössischen Dokumente über Abaelard. Umso erfreulicher ist es, wenn sich an unerwarteter Stelle eine neue Information über den Philosophen und Theologen eröffnet. Bei unseren Recherchen fanden wir eine Anekdote aus Abaelards Frühzeit in oder bei Paris - aus der Feder Geralds von Wales:

Manorbier Castle, 5m südwestlich von Tenby, Pembrokeshire, SW-Wales Gerald von Wales - auch Giraldus Cambrensis, Gerald de Barri oder Gerallt Cymro genannt - war ein normannisch-walisischer Adeliger mit einer interessanten mittelalterlichen Karriere: Er war Archidiakon, zugleich aber auch Schriftsteller, Diplomat, Kirchenpolitiker, Historiker, Volkskundler, Dichter. Um 1146 in Manorbier Castle, Pembrokeshire, geboren, entschloss er sich in seiner Jugend, eine Kirchenlaufbahn einzuschlagen, und begab sich zum Studium nach Paris. Erst im Jahre 1172 kehrte er nach England zurück und trat zunächst in die Dienste des Erzbischofs von Canterbury. Schließlich wurde er Archidiakon von Brecknock (heute Brecon/Wales). Seine Promotion zum Bischof von St. David's schlug mehrfach fehl, was ihn immer wieder veranlasste, Wales zu verlassen,  ja sogar nach Rom zu reisen, um an Papst Innozenz III. zu appellieren. Im Jahre 1176 ging Gerald nochmals für 4 Jahre nach Paris, ein drittes Mal kurz vor 1190. Zwischenzeitlich - in den Jahren 1184-1186 - begleitete er den Prinzen Johann auf eine Expedition nach Irland, im Jahre 1188 unterstützte er Erzbischof Baldwin bei einer Reise durch Wales. Darüber verfasste er einige Reiseberichte mit lokalhistorischen Beschreibungen. Als Kandidat des walisischen Adels bemühte er sich bis ins Alter um das Episkopat von St. David's - scheiterte aber an der Intervention des Königs, der andere Vorstellungen hatte. Deswegen musste er sogar einmal außer Landes fliehen. Gegen Ende seines Lebens versöhnte er sich allerdings mit dem Königshaus, von dem er eine kleine Pension erhielt. Nach 1216 verliert sich seine Spur. Gerald verstarb 1123 in Lincoln.

Gerald von Wales auf diplomatischer MissionGerald war ein begeisterter, fleißiger Schriftsteller. Er formulierte gewandt, anschaulich und kenntnisreich, neigte allerdings mehr zur anekdotischen Geschichtsschreibung, so dass der historiographische Wert seiner Schriften für heutige Maßstäbe etwas eingeschränkt ist. Seine Reisebeschreibungen Irlands - Expugnatio Hiberniae, 1188, und Topographia Hiberniae, 1188 - und die seiner walisischen Heimat - Descriptio Cambriae, 1194, und Itinerarium Cambriae, 3 Ausgaben 1188-1213 - enthalten jedoch so viele lokalhistorische und folkloristische Details, dass sie für die Erforschung der britischen Alltagsgeschichte eine schier unerschöpfliche Fundgrube darstellen. Neben diesen Hauptwerken verfasste Gerald auch autobiographische Arbeiten, Lebensbeschreibungen von bedeutsamen Kirchenmännern und Heiligen, pastorale Schriften, Briefe, lateinische Gedichte, Lieder und Abhandlungen über das Kirchenrecht. Die folgende Liste seiner Werke ist sicher nicht vollständig: De principis Instructione liber (1190), De Rebus a se gestis (1204/1204), Vita S. Davidis II episcopi Menevensis, Liber de promotionibus et persecutionibus Ganfredi Eboracensis archiepiscopi (1193), Symbolum Electorum, Invectionum Libellus, Speculum Ecclesiae (1216), Vita S. Remigii, Vita S. Hugonis, Vita S. Ethelberti, Vita S. Cavadoci, Epistola ad Stephanum Langton, De Giraldo Archidiacono Menevensi, De Libris a se scriptis, Catalogus brevior librorum, Retractationes, Gemma ecceslastica (1197), De jure et statu Menevensis Ecclesiae dialogus (1214). Die gesammelten Werke wurden  im 19. Jahrhundert von Brewer, Warnock und Dimock herausgegeben: Opera Giraldi Cambrensis, 1861-77.

Folgende Begebenheit stammt aus dem Itinerarium Cambriae. Der Reisebericht referiert über eine Pilgerreise Erzbischof Baldwins durch das wetterwendische Wales aus dem Jahre 1188:

Inmitten des 12. Kapitels des 1. Buches seiner Abhandlung schildert Gerald plötzlich die Erfahrung, dass geweihte Orte besonders den Unbilden der Witterung ausgesetzt seien, ja sogar des Öfteren davon zerstört würden. In diesem Zusammenhang kam ihm eine Geschichte in den Sinn, die er wohl während seiner Studienzeit in Paris erfahren und die ihn so beeindruckte hatte, dass er sie nicht vergaß:

Ca. dreißig Jahre, nachdem Peter Abaelard Paris endgültig verlassen hatte, und mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Vorfall selbst, erzählte man sich in den Studentenkreisen von Paris noch immer eine Anekdote aus dem Leben des zum Ketzer erklärten Theologen Abaelard:

       

Nonnullos etiam movere solet, quod fulmina frequenter ecclesias nostras et templa cadendo dejiciunt; cruces quoque et Crucifixi imagines, coram oculis cuncta cernentis et hoc permittentis, plerumque feriendo diminuunt. Quibus nihil aliud ad praesens nisi illud Ovidii respondere dignum duxi;

Summa petit livor, perflant altissima venti,
Summa petunt dextra fulmina missa Jovis.

Sicut et Petrus Abaelardus egregie suo in tempore, in praesentia Philippi Francorum regis, cuidam Judaeo respondisse memoratur, haec et similia in opprobrium fidei objicienti.

Verum, inquit, quia fulmina, ab alto descendentia domicilio, ad ea quae in terris sublimiora reperiunt, suaeque naturae similiora, se frequentius applicant. Interdum etiam ministerio daemonum et malitia, dum nubium collisione exorta pariter et extorta vage per aerem in ima feruntur, inter res praedictas, aut ipsas etiam hominum personas, ut vel fidem laedere valeant vel fideles, impelli permittuntur. Ideoque in synagogas vestras nunquam fulmina cadunt, quia nec in cloacas unquam ea cecidisse vel vidit quispiam vel audivit.  

Einige Leute pflegt es zu beunruhigen, dass Blitze häufig in unsere Kirchen und Bethäuser einschlagen und die Kreuze und Bilder des Gekreuzigten vor den Augen dessen schwer beschädigen, der alles sieht und dieses dennoch zulässt. Diesen Leuten kann ich derzeit angemessen nur mit jenem Distichon Ovids antworten:

Der Neid greift selbst das Erhabenste an, die Winde umstürmen höchste Höhen, die Blitze aus der Rechten Jupiters schlagen in die Gipfel.

Zum gleichen Thema soll Peter Abaelard zu seiner Zeit in Anwesenheit König Philipps von Frankreich einem Juden, der dieses und Ähnliches unserem Glauben zum Vorwurf machte, schlagfertig geantwortet haben:

Es ist wahr, dass die Blitze, die aus der Höhe auf ein Haus niederfahren, ziemlich oft in die Orte einschlagen, die die Erde um Einiges überragen, entsprechend ihrer Natur.  Manchmal ist ihnen sogar gestattet, wenn sie sich durch den Aufprall der Wolken entladen und unstet durch die Luft nach unten zucken, durch das Machwerk der Dämonen in die besagten Dinge, aber  gerade auch in Personen einzuschlagen, um den Glauben beziehungsweise die Gläubigen zu verletzen. Genau deshalb schlagen Blitze nie in Eure Synagogen ein. Denn wer hätte denn je gesehen oder gehört, dass sie in Abflüsse eingeschlagen hätten.

Zitiert aus: Rerum Britannicarum Medii Aevi Scriptores or Chronicles and memorials of Great Britain and Ireland during the Middle Ages, Geraldus Cambrensis, Opera, 6. Itinerarium Kambriae et Descriptio Kambriae, Liechtenstein, 1964, Liber I., Cap. XII, Seite 95f.

 

Trotz des zeitlichen Abstands von mehr als einem halben Jahrhundert zwischen dem Ereignis und der Erzählung halten wir diese Passage für eine sehr wertvolle und zutreffende Quelle:

1. Gerald referierte ein elegisches Distichon aus den Remedia Amoris des P. Ovidius Naso (Vers 369f.), welches Peter Abaelard als Argument in einem etwas gehässig vorgetragenen Dialog - einer so genannten Altercatio - mit einem Pariser Juden verwendet haben soll. Wie authentisch diese Schilderung ist, erkennt man an der Tatsache, dass Abaelard dieses Zitat an vier Stellen seiner Werke verwendet hatte - wenn auch in teilweise verkürzter oder varianter Form:

Aufgrund dieser Textparallelen scheint Gerald also in der Tat einen sehr authentischen Gedankengang Abaelards reproduziert zu haben. Wie man nun erfahren hat, gehörte das Ovid/Horaz-Zitat nicht nur zum schriftstellerischen Repertoire Abaelards, sondern stand ihm als griffige Floskel auch im mündlich vorgetragenen Streitgespräch zur Verfügung. Mit diesen Parallelen erfahren nun auch die anderen Angaben Geralds Einiges an Gewicht. Von seinen Zeitgenossen verwendete übrigens nach der CLTCT-Datenbank auch Wilhelm von Conches, der als Lehrer auf dem Montagne Sainte-Geneviève während der zweiten Schaffensperiode Abaelards in Paris (um 1135-1138) in engen Kontakt mit ihm gestanden war, dieses Zitat: "IReddit causam quare utrumque vitet, quia ILLUD id est CACUMEN MONTIS id est summum honorem et divitias, URGET PROTERVUS AUSTER id est superbia et potentia principum iuxta illud: Summa petit livor, perflant altissima Venti..." (Wilhelm von Conches, Glossen über Boethius, In consolationem, Buch 2). Desgleichen findet sich das Ovidzitat im Brief des Abaelardschülers und Magisters Hilarius aus Orléans, der an den Dekan G. von Talmont gerichtet ist und Hilarius' Schulkarriere zum Thema hat: "Etenim scriptura multis in locis proclamat et quotidianus sermo consonat, quia 'summus petit livor'. Minimis enim non invidetur, sed summis semper per invidiam pertrahitur..." Der Passus erinnert doch sehr an die Sprache Abaelards. (Siehe Brief 9 in: Hilarii Aurelianensis versus et ludi..., ed. Walther Bulst und M.L. Bulst-Thiele). Des weiteren orientierte sich auch ein Vinzenz von Beauvais, 1190 -1263, der ebenfalls in Paris studiert hatte, in seinem Werk "De morali principis institutione" an dem Ovid-Zitat: "Et revera tempestas est, quia sicut ait Ovidius in libro De remediis: Summa petit livor: perflant altissima venti, summa petunt dextra fulmina missa Iovis..." (Kap. 9) und erneut "Ovidius in libro De remediis: Summa petit livor..." (Kap. 20). Insgesamt fand das Ovidzitat also im Mittelalter nur höchst selten Verwendung, und wenn, dann ausnahmslos von Personen, die während des Studiums in Paris von Abaelard gehört hatten bzw. in direktem Kontakt mit ihm gestanden waren - ein weiterer Beleg für die Originalität der Anekdote.

2. Gerald von Wales schrieb, dass das Streitgespräch in Anwesenheit König Philipps stattgefunden habe. Diese ist eine bedeutsame Angabe, handelt es sich doch um den einzigen direkten Beleg, dass Abaelard zur königlichen Audienz vorgelassen worden war und somit beim Königshaus in gewisser Gunst stand. Dies ließ sich aus den Angaben der Historia Calamitatum bisher nur indirekt und relativ vage erschließen - zum Beispiel, wenn Abaelard just zu demselben Zeitpunkt in die sedes regia nach Melun umsiedelte, als dies auch der französische Herrscher tat. Im übrigen war der Kanzler des Königs, Stephan von Garlande, ein Freund und Gönner Abaelards wie Bautier eindrucksvoll nachgewiesen hat. Nach den eigenen Recherchen steht auch fest, dass Heloïsa und Fulbert in der Gunst des Königs und seiner illegitimen Gattin Bertrada von Montfort standen. Wer weiß, ob nicht gerade am Königshof erste Kontakte zwischen beiden Seiten geknüpft worden waren.

Damit erhebt sich auch die Frage, wann die Begebenheit sich abgespielt hat. Da Abaelard erst um 1100 mit einiger Sicherheit in Paris nachgewiesen ist und erst ab etwa 1102 einen Ruf erlangt hatte, der ihm einen Zutritt zum König erlauben sollte, König Philipp andererseits am 29. Juli 1108 in Melun verstarb, muss sich die Auseinandersetzung zwischen 1102 und 1108 abgespielt haben.

3. Äußerst interessant ist die Tatsache, dass hier von einer verbalen Auseinandersetzung - wenn auch einer sehr gehässigen - zwischen einem Juden und einem Christen berichtet wurde, die noch dazu eine gewisse Öffentlichkeitswirkung hatte.

Dass ein Jude am Königshof anzutreffen war, war allerdings keine Besonderheit. Die jüdische Diaspora-Gemeinde von Paris, die sich auf Handel und Geldverleih spezialisiert hatte und am vicus Judeorum in zentraler Lage der Île de la Cité wohnte, war durch einen Freibrief des Königs in der Stadt sanktioniert. Dieser wusste reiche Juden als Kreditgeber durchaus zu schätzten. Außerdem hatten wir in zwei früheren Studien über Peter Abaelard und seine Zeit, die sich auch innerhalb dieser Seiten finden (siehe Kapitel Reflexion) nachgewiesen, dass zu Beginn des 12. Jahrhunderts in den Intellektuellenkreisen von Paris noch der offene Dialog zwischen Christen und Juden gepflegt wurde. Es ist sogar quellenmäßig belegt, dass Vertreter beider Konfessionen gemeinsam studierten.

Im Lauf der Jahre wandelte sich das Klima allerdings gründlich. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts wurden - nach zahlreichen Judenpogromen in Mittel- und Südeuropa - schließlich auch die Juden von Paris durch König Philipp-August massiv schikaniert: das eine Mal wurden sie vertrieben, das andere Mal mit drückenden Steuern belegt. Das zunehmend antisemitische Klima war unter anderem eine Folge der Kreuzzüge.

Aus der vorliegenden Anekdote erfährt man nun, dass sich in der betreffenden Zeit Abaelards persönliche Haltung gegenüber dem Judentum geradezu reziprok entwickelte. Hatte er in diesen Jugendjahren, in denen er sich später selbst des intellektuellen Hochmuts bezichtigte, noch die religiösen Empfindungen eines Juden schwer verletzt, indem er überheblich und gedankenlos den Ort seiner Gottesverehrung, die Synagoge, als Kloake bezeichnete, so entwickelte er in seinen späten Jahren eine Haltung der Achtung auch gegenüber der jüdischen Religion. 

Trotz des sich verschlechternden interkonfessionellen Klimas hatte sich Peter Abaelard am Ende seiner Laufbahn dazu entschieden, seinen Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum als eine für den Zeitgeist ungewöhnliche Toleranzschrift zu verfassen. In diesem Werk propagierte er eine Gesprächskultur, die jeden präjudizierenden Umgang mit Glaubenswahrheiten vermied. Wenn er nun den Juden zum Christen sagen ließ: Fidem tecum de unius Dei veritate communem habeo - ich habe mit Dir den Glauben an die Wahrheit des einen Gottes gemeinsam, so schuf er eine Atmosphäre gegenseitigen Respekts. Dies war letztlich ein Friedensmodell, welches geeignet war, auch Schismen und Glaubenskriege zu überwinden. Diese irenische Utopie des Miteinanders der monotheistischen Weltreligionen, die Abaelard am Vorabend der Inquisition entwickelte, reflektierte eine geistige Reife, wie sie erst Jahrhunderte später - zur Zeit der Aufklärung - wieder erreicht wurde. Unter der Sicht der Biographie Abaelards und der geschilderten Anekdote stellen diese Collationes also das Vermächtnis eines von den Irrungen und Wirrungen der Welt geläuterten Abtes und Theologen dar, der sich in seinen früheren Haltungen selbst überwunden hatte.

Weitere Information hierzu findet sich auch in mehreren Artikeln innerhalb dieser Seiten (siehe Kapitel: Reflexionen).

 


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