Eberhard Brost: Abaelard - Leidensgeschichte und Briefwechsel

Abaelard ist nicht der Schöpfer eines großen, umspannenden Systems; es ist, so meint jedenfalls Gilson, nicht berechtigt, ihn als den schöpferischen Erfinder der scholastischen Methode zu bezeichnen, aber er hat doch als ein Meister dieser Methode die Form der Disputation im mündlichen und schriftlichen Gebrauch besonders ausgebildet, das heißt die regelmäßige Folge von Zweifel, Untersuchung und Erkenntnis, Einwanderhebung und Lösung. So sind denn aus seiner Schule und unter seiner Anregung und Führung hervorgegangen eine Reihe von "Summen". Die Gattung hat ihren Gipfel erreicht in der Summa des Thomas von Aquin, auch wenn eine unmittelbare Abhängigkeit des Thomas von Abaelard nicht angenommen werden darf. Das Ziel ist aber in den aus Abaelards Schule stammenden Summen schon zu sehen und der Weg dahin ebenfalls. Die Ethik Abaelards ist getragen von dem Gedanken, das Entscheidende sei die zustimmende Gesinnung des Menschen, die Intentio, nicht die Tat als solche. Schon im Alten Testament macht Gottes Allgegenwart und Allwissenheit die Folgerung notwendig, dass die innere Einwilligung vor Gott so offen daliegt, wie es die Verwirklichung im Akt vor den Menschen tut. Auch vor dem Gott des Alten Testaments besteht die Sünde schon vor dem Akt, ja sogar ohne den Akt. Was aber dort nur zum Begriff der Allwissenheit Gottes gehört, ohne geradezu ausgesprochen zu werden, das spricht das Evangelium klar und deutlich aus; es heißt da (Mt. 15, 11-19): "Was zum Munde eingeht, das verunreinigt den Menschen nicht; sondern was zum Munde ausgeht, das verunreinigt den Menschen ... Was aber zum Munde herausgeht, das kommt aus dem Herzen, und das verunreinigt den Menschen. Denn aus dem Herzen kommen arge Gedanken: Mord, Ehebruch, Hurerei, Dieberei, falsch Zeugnis, Lästerung." Ebenso heißt es (Mt. 5, 28): "Ich aber sage euch: wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen." Die Kirchenväter entwickeln schon früh aus diesen zwei Stellen den Begriff der Gedankensünde als der Grundlage der Wort- und Tatsünde. Was sittlich gut und böse ist, entscheidet sich also schon im Willen, das heißt "in jener geheimen Regung des Herzens, die unter mehreren Objekten ein ganz bestimmtes Objekt auszuwählen weiß und unter vielen Zielen auf ein bevorzugtes Ziel geht." Vor Gott sind unsere geheimsten Regungen, die wir oft selbst nicht erkennen oder vor uns selbst verbergen, in ihrer Nacktheit und Blöße enthüllt. Unser Wille zur Tat schreit Gott unser Verbrechen entgegen. Die Absicht hat die entscheidende Rolle im Aufbau des Willensaktes. Der Mensch muss zur Erreichung seiner Ziele die Mittel wählen, die ihn dahin führen. Die Wahl der Mittel ist durch das Ziel bestimmt, wird durch die zielstrebige Absicht verursacht; eine schlechte Absicht wird schlechte Mittel wählen lassen, andererseits wird die gute Absicht auch die bei der Ausführung unterlaufenden Fehler und Unzugänglichkeiten ausgleichen. Diese Einsichten führen die christlichen Denker des Mittelalters, wie Gilson sagt, bis unmittelbar vor einen Intentionalismus, vor eine Absichtsethik im strengen Sinn Kants. Abaelard ist am weitesten gegangen und Kant am nächsten gekommen. Für Abaelard "ändert die Ausführung oder Nichtausführung des Aktes nichts an dem Wert unsrer Willensentscheidung". Die anderen christlichen Denker haben diese Konsequenz nicht gezogen; sie hatten "zuviel handfesten gesunden Menschenverstand", um es gleich schlecht sein zu lassen, "ob man einen Menschen töten will und ihn nicht tötet oder ob man ihn töten will und auch wirklich tötet". Auch Abaelard ist andererseits der Ansicht, dass es neben und über dem, was uns gut oder schlecht erscheint, auch noch das gibt, was gut oder schlecht ist (Non est itaque intentio bona dicenda, quia bona videtur, sed insuper quia talis est, sicut existimatur). Auch die Heiden haben ein Gewissen, aber ein irregehendes. So haben wir neben der Pflicht, unserem Gewissen zu gehorchen, auch die, "es kritisch zu prüfen und unser falsches Gewissen durch ein richtiges zu ersetzen, so oft ein irriges Urteil zu befürchten ist". In Scito te ipsum (Erkenne dich selbst), wie Abaelard sein Hauptwerk der Ethik benennt, erläutert er seine Auffassung mit einem Beispiel, das nicht nur ein einfaches Herz reizen musste; es gehörte schon die ganze Unbekümmertheit, um nicht zu sagen Naivität Abaelard's dazu, hernach fassungslos davor zu stehen, wenn die Synode von Sens als Satz 10 seiner Irrtümer verdammt den Satz: "Die haben nicht gesündigt, die Christum kreuzigten, ohne von ihm zu wissen; was aus Unwissenheit geschieht, darf nicht als Schuld angerechnet werden" (Quod non peccaverunt, qui Christum ignorantes crucifixerunt, et quod non culpae adscribendum est, quidquid fit per ignorantiam). Auch ein so ruhig urteilender Gelehrter wie Otto von Freising hebt unter wenigen Beispielen gerade diesen Satz als belastend hervor. Abaelard hat gewiss vor dem Missbrauch der Dialektik in der Theologie gewarnt. Aber die Ehrlichkeit der Warnung rettete ihn nicht vor dem Angriff der Mystik unter der Führung Bernhards von Clairvaux...


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