Volant Libri - das Fortwirken von Abaelards wissenschaftlichem Werk

Schreiber in einem mittelalterlichen SkriptoriumHeute wird die Popularität eines Autors oder seines Werkes sorgfältig an der Zahl den verkauften Exemplare in einem bestimmten Zeitraum gemessen. Dies ist jedoch nicht unbedingt eine Garantie für Qualität. Nicht selten finden Bücher zunächst nur eine geringe Verbreitung, werden jedoch anhaltend nachgefragt und erfordern oft erst nach längerer Zeit eine Neuauflage. Stellen wir einen Vergleich mit den frühmittelalterlichen Autoren an, so bemerken wir: Das sicherste Zeichen der Popularität der Autoren im 12. Jahrhundert ist die Zahl der Manuskripte, die kopiert wurden, besonders im 15. Jahrhundert. (G. Constable).

Demnach muss Abaelards Popularität - verglichen mit anderen Zeitgenossen wie Gilbert, Petrus Lombardus, Hugo von Saint-Victor - zunächst als sehr niedrig eingeschätzt werden. Allerdings widerfuhr dieses Schicksal auch anderen Autoren. Gerade deshalb sind deren Schriften so wertvoll für die heutige Forschung. An Beispielen seien genannt: Die Sententie Atrebatenses, die Historia pontificalis des Johann von Salisbury (nur 1 Manuskript), die Sententiarum libri octo des Kardinal Robert Pulleyn (2 Manuskripte), die Sententie Varsavienses (1 Manuskript). Auch Gerhoh von Reichersberg (verst. 1167) genoss nie Popularität; gerade 3 Kopien sind von seinem De simoniacis erhalten. Sein Kommentar zu den Psalmen wurde nie kopiert. Auch Abaelards Name findet sich kaum in den Katalogen der mittelalterlichen Literatur. Worin liegen die Gründe?

 

Die Verbreitung von Abaelards Schriften zu seinen Lebzeiten

 

Im Jahre 1120 hatte sich Abaelard - nach seiner Verstümmelung - der Theologie zugewandt. 1121 war er vor das Konzil von Soissons zitiert worden: Ich sollte die Abhandlung über die Trinität, die ich geschrieben hatte, mitbringen. Ich stimmte zu... Seine Gegner und Verurteiler hatten keine einzige Kopie seines Buches zur Vorlage bei sich gehabt: in presenti non habebant - sie hatten gerade keines dabei. (Hist. Cal.)

Für heutige Verhältnisse war dies ein unglaublicher Vorgang. Abaelard wurde gezwungen, sein Buch Theologia Summi Boni mit dem Traktat De Unitate Et Trinitate Divina eigenhändig ins Feuer zu werfen. Ich wurde vor das Konzil gerufen, und ohne Untersuchung, ohne Prüfung zwang man mich, mein erwähntes Buch mit eigener Hand ins Feuer zu werfen. Und so ward es verbrannt... (Hist. Cal.)

Nach seinem erneuten öffentlichen Unterricht in Paris seit dem Jahre 1133 begann eine beispiellose, im Vergleich zu den Ereignissen von Soissons noch wesentlich schlimmere Kampagne gegen seine Lehre und seine Bücher:

Im Jahre 1139 warnte Wilhelm von St. Thierry Bernhard von Clairvaux: Peter Abaelard lehrt und schreibt schon wieder Neuigkeiten. Seine Bücher überqueren die Meere, springen über die Alpen. Seine neuen Behauptungen über den Glauben, seine neuen Lehrsätze verbreiten sich über die Provinzen und Königreiche, feierlich vorgetragen und straflos verteidigt, soweit, dass man sagt, sie erfreuen die Autorität der Römischen Kurie. Doch anderer Stelle schränkt er die weite Verbreitung der Werke Abaelards schon wieder ein: Anderntags gelang es mir, dessen Büchlein, das den Titel trug: Theologia Petri Abaelardi, zu lesen. Es gibt zwei Büchlein mit fast identischem Inhalt, abgesehen davon, dass eines zufälligerweise mehr, das andere weniger Inhalt hat. Von anderen Werken wie Scito Te Ipsum und Sic et Non wusste Wilhelm nur vom Hörensagen. Sie hassen das Licht; man findet sie nicht, wenn man nach ihnen sucht. (PL 182, Ep. 326)

Berhard von Clairvaux hatte einige Werke Abaelards gelesen: Ein Brief an Papst Innozenz II. bestätigt, dass er Abaelards Theologia kannte, die er Stultilogia nannte (PL 182, Ep. 190). Er hatte außerdem ein Liber sententiarum aus der Schule Abaelards und dessen Römerbriefkommentar gelesen. So seltsam es klingt - Bernhard hatte Kopien von Abaelards Werken und er sandte sie nach Rom zu deren Zerstörung. Den Kurienkardinälen empfahl er auch die Lektüre von Scito Te Ipsum - natürlich zur Abschreckung (PL 182, Ep. 188). Abaelard hatte in diesem Werk den Amtsklerus massiv angegriffen. Auch Kurienkardinal und Kanzler Haimerich kannte Abaelards Schriften: Wir haben die Bücher und Lehrsätze des Meisters Peter Abaelard sowohl gehört als auch gesehen. (PL 182, Ep.338) Bernhard verstärkte seine Angriffe auf Abaelard: Seine Bücher kommen aus dem Dunkel ans Licht. Nach außen zeigt er sich als Mönch, nach innen als Ketzer. (PL 182, Ep. 332) Lange hatte er geschwiegen; aber solange er schwiegt, erfuhr er in der Bretagne Schmerz und erfährt jetzt in Franzien Unbilligkeit. (PL 331, Ep. 331) Mehrere Bischöfe meldeten an Papst Innozenz II. über Bernhard von Clairvaux: Mehrere seiner Schüler ermahnte er, sie sollten die Bücher voller Gift verschmähen und wegwerfen. (PL 182, Ep. 337)

Wie die Kampagne endete, ist bekannt. Abaelard wurde schließlich nach dem Konzil von Sens zu ewigem Schweigen und Klosterhaft verurteilt, seine Bücher verbrannt. Von Papst Innozenz ist eine dementsprechende Verbrennung überliefert. Die Bücher brannten in incendio celebri - in herrlichem Feuer.  So berichtete Gottfried von Auxerre (Ep. ad Alb., 14). Wenig später starb Abaelard.

 

Die Verbreitung von Abaelards wissenschaftlichem Werk nach seinem Tode

 

War es Bernhard von Clairvaux gelungen, den Ruf des Literaten Abaelard und damit sein Werk zu vernichten? Er selbst hatte darüber zeitweise seine Zweifel: ...hoffentlich bleiben seine verderblichen Folianten in Kisten verborgen und werden nicht öffentlich gelesen. Volant libri, d.h. Bücher verbreiten sich schnell. (PL 182, Ep.38)

Aber im Großen und Ganzen waren binnen einer Generation Abaelards Werke weitgehend in Vergessenheit geraten. Nur ca. 80 Manuskripte, die Werke Abaelards enthalten, haben bis heute überdauert; keines trägt Abaelards persönliche Handschrift. Häufig handelt es sich nur um Varianten desselben Werkes. Die Theologia findet sich in 18, Sic et Non in 11, die Ethica in 5, der Dialogus in 3, der Genesiskommentar in 4, der Römerbriefkommentar in 3 Fassungen. (Luscombe, The School of Peter Abelard) Es ist verwunderlich, dass Abaelards Zeitgenossen so wenig Interesse an seinen Schriften zeigten und auf das Kopieren weitgehend verzichteten.

 

Werke aus der Schule Abaelards

 

Abaelard hatte zu Lebzeiten einen ungeheuren Zulauf von Studenten aus ganz Europa erfahren. Aber offensichtlich wurde damals versäumt, Vorlesungsskripten zu erstellen. Die Sentenzenbücher aus der Schule Abaelards, die meist auf den verschiedenen Fassungen von Abaelards Theologia aufbauen, sind spärlich:

 

Die orthodoxe Meinung über Abaelards Werk

 

Viele mittelalterliche Autoren äußerten sich gegen Abaelard und seine Lehre, ohne sein Werk je begutachtet zu haben. Sie beriefen sich dabei meistens auf die veröffentlichten Briefe Bernhards von Clairvaux, die damit gewissermaßen in paradoxer Weise doch die Erinnerung an Abaelard aufrecht erhielten:

Die Ächtung durch Bernhard von Clairvaux wirkte also fort. Noch Jahrhunderte über seinen Tod hinaus war der Name Abaelard so sehr mit dem Odem der Ketzerei behaftet, dass es meist nicht opportun war, ihn weiter ernst zu nehmen oder gar expressis verbis zu erwähnen. Viele Autoren hatten keine Kopien seiner Werke zur Verfügung oder hielten zumindest andere Werke für höherwertiger.

 

Indirekter Einfluss Abaelards auf die weitere Entwicklung der Theologie und Philosophie

 

Trotzdem lohnt es sich, nach den mittelbaren, indirekten Einflüssen von Abaelards Werk auf die literarische Nachwelt zu suchen. Den Namen Peter Abaelard wird man dabei höchst selten finden. Dies sei an einigen Beispielen aufgezeigt:

 

Ausblick

 

Auch wenn Abaelard also nach seinem Tode nicht gleich vergessen war - unter seinem Namen wurde sein Werk so gut wie nicht verbreitet. Der Name Abaelard verschwand somit vollständig aus den Annalen. Allerdings wurden die relativ wenigen Manuskripte seiner Werke über einen relativ weiten europäischen Radius verbreitet und in zum Teil bedeutenden Skriptorien, wie zum Beispiel im Kloster Prüfening an der Donau, kopiert. Dies belegt zumindest, dass Abaelards Ideen in gewissen intellektuellen, meist klösterlichen Kreisen nach wie vor geschätzt und in ihrer Bedeutung erkannt wurden. Einer Verbreitung seines posthumen Rufes war dies jedoch nicht förderlich. Über lange Zeit blieb sein Name mit dem Odem des Ketzers behaftet, und sein Werk konnte vom großen Teil der Vertreter der Amtskirche nicht guten Gewissens zitiert werden. Mit Erfindung und Verbreitung der Buchdruckerkunst setzte vor allem in nicht-kirchlichen, historisch und literarisch interessierten Kreisen ein gewisses Umdenken ein. Doch  dann war es Abaelards tragische Liebesbeziehung zu Heloïsa, die die Menschen faszinierte, viel weniger sein wissenschaftliches Werk. Der Wissenschaftler Abaelard blieb der Amtkirche bis dato suspekt. Dies kann z.B. sehr anschaulich in den Kommentaren der großen theologischen Standardwerke der beiden letzten Jahrhunderte nachvollzogen werden. Die Verdrängung des Namens Abaelard setzte sich hier bis zum heutigen Tag fort. Der amtierende Papst Johannes Paul II. hat in seiner jüngst erschienenen Enzyklika Fides et ratio den Philosophen mit keinem Wort erwähnt.


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