Jan Beckmann: Peter Abaelard, der "Sokrates" des 12. Jahrhunderts

Prof. Dr. Jan Beckmann, Institut für Philosophie der Fernuniversität Hagen, Lehrgebiet Philosophie I, Vorlesung vom 31. Mai 2002

Wer mit wenigen und klaren Worten erklären will, worin die geisteswissenschaftlichen Leistungen eines Peter Abaelard bestehen, begibt sich auf ein felsigen Terrain: Denn zu inkohärent, unvollendet, zeitverwoben und klischeeverhaftet sind seine Lehren, als dass Sie einem Laien in kurzer Zeit verständlich vermittelt werden könnten. Herr Prof. Dr. Jan Beckmann von der Fernuniversität Hagen hat sich für seine Studenten dennoch an diese Aufgabe gemacht und vor einiger Zeit eine ausgesprochen gelungene Einführungsvorlesung zu Peter Abaelard in Internet veröffentlichen lassen. Dieser Vorlesungstext wird im Folgenden wiedergegeben. Zu den Forschungsfeldern von Prof. Dr. Jan Beckmann zählt u. a. die dialektische Philosophie des Mittelalters, worüber er bereits mehrere Fachbücher publiziert hat:

 

Peter Abaelard, der "Sokrates des 12. Jahrhunderts"

Dass das 12. Jahrhundert eine Zeit der ihre eigenen Ansprüche geltend machenden und auf ihr Recht pochenden menschlichen Vernunft gewesen ist, zeigt neben Anselm von Canterbury (1033-1109) die zweite der für das 12. Jh. maßgebenden Denkerpersönlichkeiten: Petrus Abaelardus. Person und Werk dieses Mannes haben die unterschiedlichsten Reaktionen hervorgerufen: Zu seinen Lebzeiten als akademischer Lehrer von seinen Schülern enthusiastisch gefeiert, von seinen Gegnern hingegen hartnäckig verfolgt, ist er in den nachfolgenden Jahrhunderten kaum noch bekannt, um erst im 19. Jahrhundert eine Renaissance zu erfahren, die ihn zu den bedeutendsten Denkerpersönlichkeiten der Philosophiegeschichte zählt. Man wird gut daran tun, im Falle Abaelards ähnlich wie z. B. im 14. Jh. bei Ockham zwischen Original und Klischee zu unterscheiden. Abaelard ist kein Aufklärer im Sinne des 18. Jahrhunderts; eher könnte man ihn einen "Ritter der Logik" nennen, der sich, im Bewusstsein seiner herausragenden Stellung, mit den Waffen des Geistes und mit Lust in das Kampfgetümmel wissenschaftlicher Auseinandersetzungen stürzt, wobei er den Gegner nicht nur zu schlagen, sondern gelegentlich auch zu schmähen weiß. Der Kampf, den Abaelard mit den Waffen der Logik auszufechten sucht, ist ein Kampf um die Freiheit der menschlichen Vernunft vor der Bevormundung durch den Glauben und die Kirche. Immer wieder suchen ihn seine Gegner, allen voran Bernhard von Clairvaux, zu disziplinieren. Doch Abaelard weiß sich zu wehren, indem er erbarmungslos seine intellektuelle Überlegenheit und wissenschaftliche Brillanz nutzt und überdies geschickterweise behauptet, die Kenntnis der Logik sei nur wenigen vorbehalten und bedeute letztendlich eine göttliche Gnade (Dialectica IV, Prologus).

1. Zur Persönlichkeit Abaelards

Als Sohn einer adligen Familie 1079 in Le Pallet bei Nantes in der Bretagne geboren, wählt der junge Abaelard statt des Ritterdienstes das Studium der sog. "sieben freien Künste", insbesondere der Dialektik (Logik), zunächst bei dem Nominalisten Roscelin von Compiègne in der Schule von Loches, anschließend bei dem Ultrarealisten Wilhelm von Champeaux in Paris. Nach Abschluss seiner Ausbildung wird Abaelard Lehrer der Dialektik in Melun und Corbeil und schließlich an der Kathedralschule von Notre-Dame in Paris. Nach Auseinandersetzungen mit Wilhelm von Champeaux, dessen Universalienrealismus Abaelard heftig kritisiert, gründet er 1113 außerhalb der Mauern von Paris auf dem Genovefaberg eine eigene Schule, die eine große Zahl von Studenten anzieht. Eine Liebesbeziehung zu Heloise, einer außerordentlich gebildeten Schülerin, aber auch der Neid auf sein hohes wissenschaftliches Ansehen und eine Reihe philosophischer und theologischer Kontroversen bringen viel Unruhe in Abaelards Leben, wie aus der autobiographischen Historia calamitatum mearum hervorgeht. Im Jahre 1118 wird Abaelard Mönch des Klosters von St. Denis, 1125 Abt von St. Gildas in der Bretagne. 1136 [1137] übernimmt er erneut ein Lehramt in Paris. Zu seinen erbitterten Gegnern zählt Bernhard von Clairvaux, der schließlich 1140 [neuerdings 1141] auf dem Konzil von Sens Abaelards Verurteilung als Häretiker durchsetzt, nachdem bereits 1121 auf dem Konzil von Soissons seine Trinitätslehre verurteilt worden war. Obwohl bedeutende Persönlichkeiten wie Petrus Venerabilis, Abt von Cluny, sich für Abaelard einsetzen, gelingt es nicht, die Verurteilung zu verhindern. Auf der Reise nach Rom, wo er sich bei Papst Innozenz II. gegen die in seinen Augen ungerechtfertigten Anklagen verteidigen will, stirbt Abaelard am 21. 4. 1142 im Kloster St. Marcel bei Chalon-sur-Saône, einem Priorat von Cluny.

2. Schriften

Abaelards Werke umfassen ein breites Spektrum; von den logischen Schriften, der Dialectica (zwischen 1117 und 1137 entstanden), der Logica Ingredientibus und der Logica Nostrorum petitioni sociorum (1120/24, in Ermangelung eigener Titel vom Herausgeber B. Geyer nach dem jeweiligen Textbeginn so benannt) über die Ethica (1138/9) zur Theologia Summi boni (1121) und den Abhandlungen Sic et non, Dialogus und der persönlichen Apologia bzw. Historia calamitatum mearum trifft der Leser auf ein ebenso scharfsinniges wie innovatives Oeuvre.

3. Philosophie Abaelards

3.1 Bedeutung der Logik

Abaelard ist in erster Linie Philosoph; theologische Studien hat er erst in der zweiten Hälfte seines Lebens betrieben. Sein philosophischer Ausgangspunkt mutet modern an: "Indem wir nämlich zweifeln, gelangen wir zur Untersuchung und durch diese erfassen wir die Wahrheit" ("dubitando enim ad inquisitionem venimus, inquirendo veritatem percipimus." Sic et non, Prologus). Dabei hilft vor allem die Logik, die Abaelard als eine Fundamentaldisziplin der Philosophie ansieht und als ars sermocinalis von der Sprache her angeht. Logik ist für ihn die "Führerin der Philosophie und des Wissens überhaupt", mit ihrer Hilfe lassen sich gültige von nicht-gültigen Argumenten unterscheiden. Ihr ist, wie er mit Hinweis auf Cicero feststellt, die "sorgfältige Weise des Argumentierens, d.h. die [Fähigkeit zur] Unterscheidung der [richtigen und der falschen] Argumente" (diligens ratio disserendi, id est discretio argumentorum. Logica nostrorum petitioni, 506) zu verdanken. Entscheidend ist dabei die Form (consequentia), nicht der Gegenstand (res) eines Arguments. Die Fähigkeit des Unterscheidens ist Grundmerkmal der Philosophie überhaupt. Das Neue an Abaelards Logik-Konzeption ist die Berücksichtigung des engen Zusammenhangs von Logik und Sprache. Die Logik arbeitet mit Wahrheitswerten; dieselben treten sprachlich in der Form "x ist wahr", "y ist falsch" auf. Abaelard hat sich offenbar gefragt, wie sich derartige Aussagen zu normalsprachlichen von der Form "Sokrates ist weise" verhalten. Ganz besonders interessierte ihn das Problem, wie Wörter wie "Lebewesen", "Mensch", "Gerechtigkeit" als Allgemeinnamen fungieren: Was sind sie (Abaelards Antwort: Sie sind voces, sinnlich wahrnehmbare sprachliche Einzellaute), was bedeuten sie (Abaelard: sensus bzw. sermones, allgemeine Qualitäten), worauf referieren sie (Abaelard: auf die res, die Einzeldinge)? Worte werden für Begriffe gebraucht, diese beziehen sich auf die Dinge. Man muss nach Abaelard mithin unterscheiden zwischen dem Aussprechen (prolatio verborum) und dem Verstehen (intelligentia) von sprachlich gefassten Begriffen. Sodann: Wie ist in der Aussage die Beziehung zwischen Subjekt- und Prädikatterm zu verstehen: Ist letzterer im ersteren "enthalten", genauer: Ist das, was P bezeichnet, in S "enthalten", so dass gilt: In der Aussage "S ist P" ist "P" Bestandteil von "S". Oder muss man die Beziehung von "S" und "P" ganz anders deuten, nämlich so, dass in der Aussage der Subjekt- und der Prädikatterm für ein und dasselbe stehen? In diesem Fall wird das Verhältnis von "S" und "P" nicht als das des Enthaltenseins, sondern als das einer (durch die Prädikation erfolgenden) Zuschreibung begriffen. In Abaelards Werk finden sich beide Theorien, die Theorie des Enthaltenseins (inhaerentia, daher auch Inhärenztheorie genannt) in der Logica Ingriedentibus' (ed. B. Geyer 360-361) und die Theorie der identischen Supposition von "S" und "P" (sog. Identitätstheorie) in der Dialectica (ed. L. M. de Rijk, 159, 31ff). Nach Maßgabe der Inhärenztheorie bedeutet die Aussage "Der Mensch ist ein Vernunftwesen", dass dasjenige, wofür der Prädikatterm "Vemunftwesen" steht, in dem "enthalten" ist, wofür der Subjektterm "Mensch" steht. Nach der Identitätstheorie ist im obigen Beispielsatz nicht "Vemunftwesen" in "Mensch" "enthalten"; vielmehr steht der Subjektterm "Mensch" für dasselbe wie der Prädikatterm "Vernunftwesen" (was nach den Regeln der Logik selbstverständlich nicht auch umgekehrt gilt). Die Frage, ob hier eine Entwicklung bei Abaelard von der Inhärenz- (Logica Ingredientibus) zur Identitätstheorie (Dialectica) vorliegt, ist in der Forschung umstritten. Die neueste Deutung geht dahin, dass nach der gemeinsamen Voraussetzung beider Theorien gesucht wird, indem man fragt, ob das Dreier-Schema der Aussage (Subjektterm, Kopula, Prädikatterm) nicht besser als ein Zweier-Schema aufzufassen ist, indem man Kopula und Prädikatterm zusammenfasst. Diese Annahme hat den Vorzug, dass sowohl für die Inhärenz- wie für die Identitätstheorie Raum bliebe, und vor allem, dass sich deutlicher unterscheiden ließe, in welchen Fällen die ontologisch orientierte Inhärenz- und in welchen Fällen die semantisch wichtige Identitätstheorie Anwendung finden.

3.2 Theorie der Universalien

In seinem logischen Hauptwerk, der Dialectica, behandelt Abaelard in enger Orientierung am aristotelischen Organon und unter Berücksichtigung der Kommentare von Porphyrios und Boethius die Lehre von den Kategorien, vom Satz, von den Schlussfolgerungen, von der Definition, etc. Dabei nimmt er im Hinblick auf die Frage nach dem ontologischen Status des Allgemeinen eine differenzierte Position ein, wonach die Universalien ihren Ort vor den Dingen in Gott und nach den Dingen im menschlichen Verstand haben. Real im strengen Sinne ist nach Abaelard nur das Einzelseiende; würde man das Allgemeine als in gleicher Weise real bezeichnen, ergäben sich Ungereimtheiten von der Art, dass man Universalien als teilbar oder vervielfältigbar ansehen müsste. So sicher sich Abaelard in der Ablehnung des Universalienrealismus ist, so sehr ist er andererseits darauf bedacht, den Universalien eine Bedeutungsfunktion zu erhalten, die jeglicher subjektiver Beliebigkeit entzogen ist. Die Möglichkeit universaler Prädikation bindet er daher an die beobachtbaren und vom Verstand abstrahierbaren Übereinkünfte (convenientiae), die es zwischen bestimmten Dingen gibt - Übereinkünfte, welche den Dingen von Natur aus zukommen (conveniunt ex creatione naturae). Abaelard nennt derartige Übereinkünfte "Tatbestände" (status). So stellt z.B. "Mensch sein" keine dinghafte Wirklichkeit, keine res dar, sondern ein mentales Abstraktionsergebnis. Der Allgemeinbegriff "Mensch" "verschafft keine Kenntnis über einen Gegenstand" (Logica Ingredientibus I). Und doch hat der status hominis ein reales Fundament, er stellt ein aliquid in re dar, in dem alle Menschen überein kommen. "Ich sage nicht, die Menschen stimmen "im Menschen" überein, da ein Ding nur in Vereinzelung Mensch ist, sondern ich sage, dass sie "im Menschsein" übereinstimmen. Das "Menschsein" aber ist nicht ein Mensch und auch kein Ding..." [...] "Die Allgemeinheit, die ein Ding dem Wort gewährt, hat das Dings selbst nicht in sich" (loco cit.). Abaelard ist daran gelegen, nicht in die Position des Universalienrealismus zurückzufallen. Die Universalien sind und bleiben Worte (voces), an bedeutungstragende Bestandteile menschlicher Rede gebunden. Zwecks Sicherung dieser semantischen Funktion weist er ihnen einen mentalen Wirklichkeitsstatus zu. In seiner Logica Nostrorum petitioni sociorum verwendet Abaelard hierfür den Terminus sermo. Es ist ihre Funktion als bedeutungstragende Termini, die die Universalien davor bewahrt, zu sein, was sie nicht sein können (nämlich res), und sie davor schützt, zu werden, was sie nicht werden dürfen (nämlich reine Verstandesprodukte, ficta). Für die semantische Funktion der Universalien ist in der Alternative "real oder mental" kein Platz, es bedarf einer eigenen dritten Dimension, um die semantische Funktion der Universalien angemessen zu verorten, der Dimension der Bedeutung: "Zwischen Ding und Intellekt erhebt sich als Drittes die Bedeutung der Namen" (praeter rem et intellectum tertia exiit nominum significatio). Man kann den Universalien, die nach Abaelard nicht zu den Dingen gehören, sondern in den Bereich bedeutungstragender Redeteile, eben deswegen nicht jegliche Form von Realität absprechen. Gleichwohl sind die Universalien Ausdruck der Tätigkeit des menschlichen Intellekts, sie verdanken sich der "Einsetzung durch den Menschen" (nominum institutio, Logica Nostrorum petitioni sociorum). Insofern die Logik mit dem richtigen Sprachgebrauch zu tun hat, zwischen Sprache und Wirklichkeit aber keine unmittelbare Entsprechung herrscht, steht Abaelard einer nominalistischen Position nahe: Das Universale ist ein Prädikat, das von einer Gruppe von Individuen ausgesagt werden kann. Da die Einzeldinge von Natur aus nicht aussagbar sind, können Universalien keine in der Natur vorkommenden Dinge sein. Abaelard vermag gleichwohl nicht einzusehen, warum aus dem Gesagten folgt, dass die Universalien lediglich reine Worte sein müssten, wie dies offenbar sein ursprünglicher Lehrer Roscelin behauptet hat. Als bedeutungstragende Bestandteile menschlicher Rede wurzeln die Universalien vielmehr in bestimmten Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen den Dingen. Abaelard wird daher vielfach doch dem Lager der Realisten zugeordnet. Bei einer solchen Betrachtungsweise muss allerdings in Rechnung gestellt werden, dass sie deutlich von der Sichtweise der Universaliendiskussion des 14. Jahrhunderts geprägt ist, für die die ontologische Bestimmung des Allgemeinen maßgeblich ist. Für Abaelard hat sich die Universalien-Frage jedoch etwas anders gestellt, es ist ihm wesentlich um die Bestimmung der semantischen Relation zwischen Allgemeinem und Einzelnem zu tun. Wenn die Forschung in bezug auf die Frage, ob Abaelard Nominalist oder Realist gewesen ist, immer noch mit einem "sowohl als auch" antwortet, so lassen sich dafür durchaus Gründe angeben. So beantwortet er in seiner Logica Ingredientibus die drei Fragen des Porphyrios nach dem ontologischen Status der Universalien ("Sind die Universalien real oder nur gedanklicher Natur, sind sie körperliche oder unkörperliche Wirklichkeiten, existieren sie in den Dingen oder unabhängig von ihnen?") scheinbar mit einem "sowohl als auch": Die Universalien bezeichnen reale Dinge, sind aber gleichwohl "in gewisser Hinsicht im reinen Denken" eingeschlossen; hinsichtlich ihrer Aussagbarkeit beziehen sie sich auf Körperliches, im Hinblick auf ihre Bedeutungsweise (modus significandi) hingegen auf Unkörperliches; ihrer Existenz nach befinden sie sich in den Dingen, ihrer Bezeichnungsfunktion nach aber sind sie von diesen getrennt. Abaelard fügt diesen drei porphyrianischen Fragen noch eine eigene vierte hinzu, nämlich die, ob die Universalien auch dann noch existierten, wenn es keine Einzeldinge mehr gäbe; er beantwortet diese Frage mit einem klaren Nein. Es gibt die Universalien in diesem Fall nicht mehr, auch wenn ihre Bedeutungsfunktion erhalten bleibt. Aussagen wie diese haben zu der Annahme geführt, Abaelard schwanke zwischen den Positionen des Realismus und des Nominalismus, ja er suche beide zu vereinbaren. Doch abgesehen davon, wie sich dies widerspruchsfrei denken ließe, finden sich schon in der Logica Ingredientibus genügend Hinweise, die verbieten, dem scharfsichtigen Logiker Abaelard eine derartig inkonsistente Haltung zu unterstellen. Er geht das Universalienproblem wesentlich geltungstheoretisch an, indem er fragt, woran es denn liege, "dass ein Allgemeinname Geltung erhält". Um dies von den üblichen Verwirrungen freizuhalten, unterscheidet Abaelard zwischen Gedanken und der Form des Gedachten: ersteres ist eine Tätigkeit, letzteres ihr Resultat. Der Gedanke ist nicht sein Gegenstand, er bezieht sich lediglich begreifend auf ihn. Die Universalien haben eine reale Referenz: Sie beziehen sich auf die Dinge, denn "die Vielheit der Dinge selbst ist der Grund für die Allgemeinheit eines Namen" (a.a.0.). Gleichwohl ist die Allgemeinheit, die von den Dingen ausgeht, nicht in diesen als eigene Realität vorhanden; die Allgemeinheit der Universalien wird von Seiten der Dinge verursacht, ohne den Dingen selbst zu entstammen. In seinen Bemerkungen zur aristotelischen Kategorienschrift distanziert sich Abaelard deutlich vom Universalienrealismus und hält zugleich an der sachlichen Begründung der Unterscheidung zwischen Universalien und Einzeldingen fest: Es sind unterschiedliche Weisen der Akzeptanz (modi acceptationis). Das heißt nicht, dass die Wirklichkeit in singuläre und universale Naturen zerfiele, wohl aber, dass die Begriffe, die der Mensch für die Dinge verwendet, dieselben einmal zur Bezeichnung der realen Einzeldinge, zum anderen aber auch zur Benennung der Ausdrücke verwendet, die für mehrere Dinge prädikativ gebraucht werden können. Die Universalien gehören demnach weder in den Bereich der Dinge noch in den der Wörter, sondern in den der sprachlichen Ausdrücke, die als Prädikate verwendbar sind. Letzteres aber ist nur möglich durch eine entsprechende "Einsetzung" (institutio), die der Mensch vornimmt. Insofern die Allgemeinnamen etwas benennen, besitzen sie eine natürliche Beziehung zur Wirklichkeit der Dinge, denn sie sind es, die benannt werden. Davon zu unterscheiden ist die Funktion der Bedeutung der Universalien: Hier geht es nicht um Dinge, sondern um Begriffe. Was man bis heute als ein "sowohl als auch" des Abaelardschen Standpunktes in der Universaliendiskussion gedeutet hat, erweist sich bei näherem Zusehen mithin als eine in sich konsistente Position, welche die Doppelfunktion der Universalien - Benennung (appellatio) und Bedeutung (significatio) - gleichermaßen angemessen zu berücksichtigen sucht.

3.3 Methodologie

Von besonderer Bedeutung ist Abaelards Beitrag zur Entwicklung der wissenschaftlichen Methodik der Scholastik. In seiner Schrift Sic et non (Ja und Nein, entstanden zwischen 1121 und 1140) behandelt er 158 Themen, zu denen es einander widersprechende Aussagen der Autoritäten, d.h. von Bibel- und Kirchenvätertexten gibt. Dabei geht es ihm nicht darum, die Wahrheit der Hl. Schrift in Zweifel zu ziehen, noch darum, die Kirchenväter zu diskreditieren. Viehmehr hat diese Schrift, die als Übungsbuch für Studenten gedacht ist, die Funktion, deutlich zu machen, dass in der Wissenschaft nicht das Gewicht der Autorität, sondern Gründe und Beweise entscheiden. Dies macht die Kenntnis der Logik unverzichtbar. "Die Philosophen lehren vieles, das sie nur deswegen festhalten, weil es durch die Autorität von Philosophen bestätigt wird, nicht aus einer Begründung, die einleuchtet" (Theologia summi boni II,5; S.153) Die wissenschaftlich fundierte Auflösung scheinbarer oder wirklicher Widersprüche ist eine Angelegenheit der Vernunft, und deren rechter Gebrauch erfordert die Kenntnis und Anwendung der Logik. Hier wird deutlich, wie eng das Verhältnis zwischen theologischen Fragen und ihrer philosophischen Behandlung bei Abaelard ist: erstere bedürfen der letzteren, die Philosophie ist nicht etwa nur ein zusätzlicher Weg zum Glauben, sie macht denselben zu allererst wissenschaftlich möglich. Abaelard erkennt damit erstmalig in der Denkgeschichte an, dass wissenschaftliches Fragen nicht nur von einem fest geglaubten Wahrheitsbestand, sondern auch von dessen Gegenteil, vom rationalen Zweifel ausgehen kann. Wahrheit wird nicht vorgefunden, sie muss gesucht werden. Das aber erfordert beständiges, methodisch kontrolliertes Fragen. Letzteres will gelernt sein; daher Abaelards Schrift Sic et non.

3.4 Möglichkeit einer wissenschaftlichen Rede von Gott (Theologie)

So wenig wie man in Abaelards Universaliendiskussion die Positionen des Nominalismus und des Realismus gegeneinander ausspielen kann, so wenig kann man in zentralen dogmatischen Fragen den Logiker Abaelard gegen den Theologen ausspielen. Abaelard ist - trotz der zeitgenössischen Agitation gegen ihn seitens Bernhards von Clairvaux und anderer und trotz der dogmatischen Verurteilungen von Soissons (1121) und Sens (1141) - kein Zweifler in Glaubensfragen. Doch meint Theologie für ihn wissenschaftliches Reden von Gott und damit einen eigenen Redemodus (singularis modus loquendi), während die übliche menschliche Rede (hominum locutio), wie die starke Bevorzugung verbaler Ausdrücke zeigt, von Dingen in der Zeit handelt und als solche nicht vor Zweifel und Widerspruch gefeit und daher der Logik und Semantik bedürftig ist. Abaelard zeigt dies in seinem Werk Theologie des höchsten Guten (Theologia Summi boni). Die aus drei Büchern bestehende Schrift setzt sich kritisch mit der Frage nach der Vereinbarkeit von Einheit und Dreiheit der göttlichen Personen vor dem Hintergrund der nominalistischen, auf einen Tritheismus hinauslaufenden Thesen Roscelins auseinander. Abaelards Ausgangspunkt ist bezeichnend: Er fragt danach, was die Namen der drei innertrinitarischen Personen "Vater", "Sohn" und "Hl. Geist" bedeuten. Erst werden die Zeugnisse der Propheten, dann die der Philosophen angeführt (I, 5f). Der Name der ersten Person bedeutet "Allmacht": Gott kann bewirken, "was immer er will". Die zweite Person bedeutet "Weisheit": Gott hat die Welt in ihrer Wirklichkeit und allen ihren Möglichkeiten konzipiert. Die dritte Person bedeutet "Güte": Die Welt ist von Gott nicht als Quelle des Übels, sondern als Ort der Rettung vorgesehen. Allmacht, Weisheit und Güte sieht Abaelard im Begriff des höchsten Guten vereint. Er beruft sich dabei auf Platon und dessen Lehre von der Weltseele, dazu auf Cicero und Makrobius. Da die Zeugnisse der Propheten und die Aussagen der Philosophen jedoch nicht ohne logisch-wissenschaftliche Prüfung zu verstehen sind, setzt Abaelard an den Beginn des II. Buches der Theologia summi boni ein Lob der Dialektik (Logik), indem er Augustinus zitiert, der sie als "Disziplin aller Disziplinen" bezeichnet hat, "in der die Vernunft sich selbst zeigt und öffnet" (Augustinus, De ordine). Es geht um die "Erfassung der Wahrheit der Dinge" (comprehensio veritatis rerum, II, 1), nicht um Sophisterei. Wenn Abaelard vor den "zügellosen und wilden Streitern" warnt, so deswegen, weil dieselben übersehen, dass alle Wissenschaft eines sie begleitenden Ethos bedarf. Keine Wissenschaft, und damit auch nicht die Logik, ist in sich etwas Gutes oder Schlechtes; jede Wissenschaft ist vielmehr indifferent, bedarf aber bei ihrer Anwendung des wissenschaftlichen Ethos, die Wahrheit zu suchen und nicht in Selbstgefälligkeit zu verfallen. Der berühmte und gefeierte akademische Lehrer Abaelard hat gewusst, wovon er hier spricht, und es entspricht ganz seiner Ethikkonzeption, wenn er anmerkt, dass nur derjenige, der Fehler begehen kann, indem er sie dennoch vermeidet, ethisch qualifiziert handelt. Methodologisch ist die gesamte Theologie des höchsten Guten von der Frage geprägt, wie die Rede von Gott wissenschaftlich möglich ist. Abaelard legt dar, warum dieselbe einen "eigenen Redemodus" (singularem modum loquendi, II, 3) verlangt: wegen der Zeitlosigkeit göttlicher Existenz. Die menschliche Redeweise (hominum locutio) ist u. a. durch den häufigen Gebrauch von Verben gekennzeichnet; Verben aber geben ihrer Natur nach zeitliche und räumliche Beziehungen wieder. So bedeutet "existieren", dass das so prädizierte Subjekt zwischen zwei verschiedenen Zeitpunkten jeweils an einem bestimmten Ort kontinuierlich vorfindbar ist. In diesem Sinne lässt sich das Prädikat "existieren" von Gott offensichtlich nicht verwenden. Eine weitere Schwierigkeit bringt die Rede von der Identität und Differenz ein: Es gilt, bei der Anwendung dieser Begriffe auf die Einheit und Dreiheit der Personen einen Weg zu suchen, wie man Identität und Verschiedenheit konsistent miteinander in Verbindung bringen kann. Abaelard widmet dieser Frage ein eigenes Kapitel (III, 4). Nachdem er je sechs Weisen der Rede von Identität und Verschiedenheit dargelegt hat, resümiert er hinsichtlich der Trinität: Die Identität Gottes ist eine solche der Substanz, die Verschiedenheit der Personen eine solche der Definition: Die erste Person definiert sich durch die Allmacht, die zweite durch die Weisheit, die dritte durch die Güte, ohne dass es damit zu einer essentiellen Verschiedenheit käme. Doch wie ist der Begriff der Person zu fassen, der keinen Tritheismus heraufbeschwört? Abaelard greift hier auf die Tradition der Grammatik seit Priscian zurück, wonach ein und derselbe Mensch entweder in der Person des Sprechers oder des Hörers oder desjenigen auftreten kann, über den ein Sprecher und ein Hörer sich verständigen (11, 5), ohne dass damit die Identität des Menschen in Gefahr geriete. Doch im Unterschied zur Grammatik, in der der Mensch stets nur eine der drei Personenrollen übernehmen kann, finden sich in Gott alle drei Personenrollen vereint. Hier wird einmal mehr deutlich, wie wichtig der aus Grammatik und Rhetorik stammende Person-Begriff für die Diskussion der innertrinitarischen Relationen geworden ist. Dies wird für das weitere Mittelalter gelten.

3.5 Ethik

Neue Wege hat Abaelard auch auf dem Feld der Ethik eingeschlagen. Die Ethik gehört nicht zum Corpus der sieben freien Künste; gleichwohl gibt es eine Tradition ethischer Reflexion seit Ciceros De officiis und De inventione, die von nachhaltigem Einfluss auf die Denker des 12. Jahrhunderts ist. Schon in Abaelards (Fragment gebliebenem) fiktivem Dialog zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen (Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum) spielen ethische Grundfragen eine zentrale Rolle: Wie sieht das höchste Gut aus und wie ist es zu erreichen? Der Philosoph weist in seinem Beitrag auf antike Vorstellungen hin: auf die platonische Lehre vom Guten, auf den Epikuräismus und die Lehren der Stoa. Doch, so wendet der Christ ein, haben nicht diese Theorien das Gute um seiner selbst willen gesucht, während der Christ das Gute um Gottes willen suchen muss? Eine Gemeinsamkeit zwischen beiden deutet sich an, wenn man das von den antiken Philosophen angestrebte höchste Gut mit Gott identifiziert. Ethisch korrektes Verhalten ist dann dasjenige, welches in der Absicht geschieht, das Gute und damit den Willen Gottes zu tun. Dass Abaelard bewusst an die antike Tradition der (Selbst-)Aufklärung anknüpft, zeigt sich im Titel seiner Schrift Ethik oder das Buch, gen. "Erkenne dich selbst" (Ethica seu liber dictus 'scito te ipsum, entstanden nach 1129). Ethische Reflexion über das zu tuende Gute ist wesentlich mit Selbsterkenntnis verbunden, wie es schon das delphische "gnothi sauton" gefordert hat. Neu ist Abaelards Begründung dieser These: Entscheidend für die Beurteilung der ethischen Qualität ist nicht die Handlung selbst, sondern die Absicht (intentio) des Handelnden. Ethisch gut ist, was der richtigen Absicht entspringt (quod ex bona intentione procedat. Ethica, ed. Luscombe 52; 18/9). So kann ein und dieselbe Handlungsweise einmal gut, ein andermal ethisch defizitär sein, je nach der Absicht des Handelnden. Das Gutsein der Absicht bemisst sich allerdings nicht am Maßstab subjektiven Empfindens, sondern daran, ob und wie das "Auge des Geistes" (oculum mentis, 52; 14) Gottes Gebot erkannt hat. Auch entscheidet nicht menschliche Schwäche, sondern die Frage, ob der Mensch einer als verwerflich erkannten Tat ausdrücklich zustimmt (consensus mali), über die ethische Qualität. Nur dort, wo der Mensch wider bessere Einsicht handelt, liegt ein ethisches Versagen vor, und nur dann, wenn der Mensch gegen sein Gewissen handelt, handelt er im ethischen wie im religiösen Sinne verfehlt. Handlungen sind nicht als solche gut oder schlecht, sie sind in sich indifferent; was sie gut oder schlecht macht, ist einzig die Absicht des Handelnden. Hintergrund dieses neuen Ansatzes ist Abaelards Überzeugung, dass der Mensch nicht als Gattungswesen, sondern als Individuum Subjekt moralischen Handelns ist. Hier deutet sich ein im Vergleich mit dem zeitgenössischen völlig neues Verständnis vom Menschen an. Man muss, so Abaelard, den Menschen betrachten, wie er ist: Ein Wesen aus Körper und Geist, mit Stärken und Schwächen auf beiden Seiten. Doch während die Schwächen des Körpers auf Defekte zurückgehen, deren Vorhandensein vom Menschen nicht geleugnet werden kann und die als solche moralisch nicht relevant sind, unterliegen diejenigen des Geistes der Möglichkeit (und der Pflicht) menschlicher Selbstbestimmung. Die Anlage zu moralischem Fehlverhalten ist nachgerade die Voraussetzung für die Möglichkeit zu einem moralisch anspruchsvollen Verhalten. "Die Macht zum Bösen ist gut und um der Verdienstlichkeit willen notwendig. Wenn wir nämlich nicht sündigen könnten, machten wir uns dadurch, dass wir nicht sündigen, in keiner Weise verdient" (Theologia summi boni, II, S. 71). Weitere Voraussetzung moralischen Handelns ist die Freiheit des Individuums.

Es sind insbesondere die Lehren von der Bedeutung des Gewissens und der Absicht in der Beurteilung der moralischen Qualität menschlicher Handlungen und sein Insistieren auf der Freiheit des Individuums gegenüber der kirchlichen Macht, die ihn in seiner Zeit als Aufklärer erscheinen lassen, als jemanden, der, bei allem Unterschied zu den Aufklärern des 18. Jahrhunderts, den Wert menschlicher Vernunft und Selbstbestimmung hervorgehoben und gegen ungerechtfertigte Ansprüche kirchlicher oder politischer Autoritäten verteidigt hat. Dabei ist seine Opposition gegenüber kirchlichen Lehren und Institutionen immer zugleich Verteidigung von Vernunft und Glauben geblieben. Bildet Johannes Scotus Eriugena den Höhepunkt der Vorscholastik, so Abaelard denjenigen der Frühscholastik. Zusammen mit Anselm von Canterbury hat er seine Zeit in einer Weise geprägt, dass man von der "Renaissance des 12. Jahrhunderts" spricht. Was jedoch Abaelards vielseitiger Geist in sich vereint, tritt bei seinen Zeitgenossen und Nachfolgern wieder auseinander.

 


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