Sharan Newman

Sharan Newman lebt in Santa Barbara, Kalifornien und hat in Mediävistik promoviert. Sie hat in den letzten Jahren mit großem und internationalem Erfolg eine Fortsetzungsreihe von historisch-mysteriösen Kriminalromanen veröffentlicht, die zum Teil im Frankreich des 12. Jahrhunderts und im Bannkreis von Abaelard und Heloïse spielen. Der Handlungsfaden einschließlich der Hauptakteure Catherine LeVendeur und Edgar ist frei erfunden. Catherine LeVendeur ist eine Schülerin und Novizin im Paraklet-Kloster, dem Konvent, der vor allem für seine gelehrte und berühmte Äbtissin bekannt ist: Heloïsa, die einstige Geliebte Peter Abaelards. Obwohl es sich bei den Romanen sicherlich nicht um Weltliteratur handelt, so ist dennoch der Handlungsrahmen sehr genau recherchiert, und man kann deshalb eine Menge über Heloïsa und Abaelard und ihre Zeit erfahren.Bisher sind in dieser Reihe erschienen: 1. In englischer Sprache: Death Comes as Epiphany, 1993, The Devil's Door, 1994, The Wandering Arm, 1995, Strong As Death, 1996, Cursed In The Blood, 1998, The Difficult Saint, 1999. 2. In deutscher Übersetzung (als TB im Econ-Verlag): Das Geheimnis von Abaelard und Heloïse, 1994, Das Tor des Teufels, 1995, Die Suche nach dem goldenen Schrein, 1996, Der Pilgermord, 1998, Die Familienfehde, 1999.

Leseprobe aus "Das Tor des Teufels": Sechzehntes Kapitel

Im Kloster Paraklet, am Tag des heiligen Georg, Drachentöter und Märtyrer, Dienstag, den 23. April 1140

Ut enim insertum clavum alius expellit, sic cogitatio nova priorem excludit. Cum alias intentus animus priorum memoriam dimittere cogitur aut intermittere.

So wie ein eindringender Nagel einen anderen hinaustreibt, so vertreibt ein neuer Gedanke den alten. Wenn der Geist bei anderen Dingen weilt, muss er die Erinnerung an frühere Dinge verdrängen und abbrechen.

Heloïse an Abaelard Brief VI

Heloïse betete. Sie betete fast den ganzen Tag, nicht nur wenn sie das Offizium rezitierte, sondern auch, wenn sie die Nonnen unterwies, die Arbeit des Klosters beaufsichtigte und mit der Außenwelt zu tun hatte. Besonders dann. Sie betete um Mitleid und Nachsicht und darum, dass sie es anderen nicht neidete, nach Belieben kommen und gehen zu dürfen, während sie in diesem Käfig, den sie selbst geschaffen hatte, gefangen saß.
»Frau Äbtissin?« Die Stimme klang zärtlich besorgt.
»Ja, Astane? Was gibt es?« Heloïse schaute auf. Ihre Augen waren trocken. Eines Tages, dachte sie. Eines Tages werde ich fähig sein, Tränen der Reue zu vergießen. Dann weiß ich, dass mir endlich verziehen ist.
»Brauchst du irgend etwas?« fragte sie die Priorin noch einmal.
»Ich habe mit Bruder Baldwin über die Spätpflanzung gesprochen. Es eilt nicht. Er will noch einmal Kürbisse setzen. Er meint, wir können bis in den Herbst ernten, wenn wir sie im Schutz der Apfelbäume pflanzen.«
»Das ist deine Entscheidung, Astane«, sagte Heloïse. »Ich vertraue deinem und seinem Urteil. Gab es sonst noch etwas?«
»Ein Bote der Gräfin Constanza war hier«, fuhr Astane fort. »Sie möchte das Grab ihrer Tochter aufsuchen und für deren Seelenheil spenden.«
»Wie es sich schickt«, befand Heloïse. »Wie viel Gefolge mag sie wohl mitbringen?«
»Mindestens zwei Zofen.« Astane zählte an ihren Fingern ab. »Vier oder fünf Bewaffnete. Vielleicht ihren Kaplan, der wohl die Messe für uns lesen wollen wird. Hoffentlich besteht er nicht darauf zu predigen. Der Mann kann nicht einen Satz auf Französisch zusammenbringen, geschweige denn auf Latein. Der eignet sich nur zum Kuhhirten.«
Heloïse unterdrückte ein Lächeln. Insgeheim stimmte sie zu.
»Barmherzigkeit, Demut, Geduld«, murmelte sie.
Die Priorin errötete. »Ich weiß, Heloïse. Doch wir beide können eine elegantere Predigt halten als Pater Deol. Du erteilst im Kapitel jede Woche eine bessere Unterweisung, und du liest nicht alles aus einem Handbuch ab!«
»Danke«, sagte Heloïse. »Doch wenn er sich erbietet zu predigen, werden wir mit demütigem Dank annehmen.«
Astane seufzte. »Und werden versuchen, uns wahrhaft dankbar zu fühlen.«
»Mit Erfolg«, sagte Heloïse.
Plötzlich drangen von draußen her Getöse, Schreie und Pferdegewieher herein. Astane lief ans Fenster.
»Woher kommt das?« fragte Heloïse.
»Von dieser Seite nicht. Ich kann nichts sehen«, antwortete Astane.
Der Lärm setzte sich aus lautem Getrappel und erschrockenen Schreien von Frauen zusammen. An der Tür klopfte es heftig, dann ging sie auf, noch bevor Heloïse antworten konnte. Schwester Thekla erschien.
»Im Gemüsegarten sind bewaffnete Männer!« rief sie. »Sie wollen eine der Laienschwestern entführen. Bruder Baldwin wehrt sie ab, so gut er kann, und ich habe um Hilfe geschickt, aber ich weiß nicht ...« Keuchend brach sie ab.
Heloïse sprang zornentbrannt auf. »Wie können sie es wagen!« rief sie aus und lief schon in den Garten, gefolgt von Priorin Astane. »Sie fordern den Zorn des Heiligen Geistes, des Heiligen Vaters heraus - und meinen!«
Letzteren sollten sie besonders fürchten, dachte Thekla im stillen. »Nein, Heloïse!« rief sie hinter ihr her. »Sie könnten Euch umbringen!«
Ein entsetzlicher Anblick bot sich ihnen draußen: zwei Ritter im Kettenhemd saßen hoch zu Ross, vor ihnen lag eine Frau am Boden. Bruder Baldwin beugte sich über sie und schlug mit seiner Hacke auf einen der Marodeure ein. Ein Schmerzensschrei, als er den Reiter am Bein traf. Der Verwundete schwenkte sein Schwert und stieß es tief in die Schulter des alten Mannes. Baldwin ließ die Hacke fallen und sank in die Knie.
Als der Ritter die Klosterinsassinnen herbeilaufen sah, wirbelte er auf dem Absatz herum und preschte durch den Garten. Beim Sprung über die Hecke wäre er beinahe aus dem Sattel gefallen, landete jedoch wohlbehalten auf der Straße, dicht gefolgt von seinem Gefährten. Heloïse rief nach Schwester Melisande und Tragbahren, dann fiel sie neben Bruder Baldwin auf die Knie.
Er lehnte sich bei ihr an und schlug dann der Länge nach in den Matsch. Heloïse nahm ihn sanft in ihren Schoß. Das Blut schoss aus der Wunde im Nacken auf ihre Röcke. Er schlug die Augen auf.
Montjoie et Saint Denis, flüsterte er. Wir nehmen Jerusalem noch heute. Ich sehe schon die Tore!
Sein Kopf sank herab. Die Priorin Astane kniete neben Heloïse nieder. Sie bekreuzigte sich, murmelte einen Segen und drückte dem alten Mann sanft die Augen zu.»Requiescat in pace«, sagte sie. »Amen.« Jetzt hatte Heloïse ihre Tränen. Sie wischte sich die Augen und legte den Leichnam auf den Boden...


[Zurück zur letzten Seite] [Zum Seitenanfang]