Alphonse de Lamartine: Le tilleul d'Abélard

© Dr. Werner Robl, Juli 2003

Postkartenansicht von ClunyAn der Nordseite der Umfriedung des ehemaligen, weitläufigen Klosterareals von Cluny steht eine Linde, deren Alter auf mehrere hundert Jahre geschätzt wird. Deshalb zählt sie heute zu den ältesten und denkmalgeschützten Bäumen Frankreichs (Nr. 71 nach der Liste d'arbres remarquables inscrits au patrimoine français). Schon seit mehr als 200 Jahren wird sie tilleul d'Abeilard, d. h. Linde Abaelards, genannt. Einer lokalen Tradition zufolge soll sie fast 1000 Jahre alt sein und bis in die Zeit Peter Abaelards zurückreichen. Hier, unter dem Schatten ihrer Zweige, habe Peter Abaelard des Öfteren gesessen und die Stille gefunden, die er zum Meditieren benötigte...

Der berühmte französische Dichter, Gelehrte und Staatsmann Alphonse de Lamartine, 1790-1869,  widmete dieser Linde einige Zeilen in seiner  Lebensbeschreibung Heloïsas und Abaelards. Man findet sie heute in Band 35 seiner Oeuvres complètes: Les vies de quelques hommes illustres, Héloise, Abélard, Paris 1863, Reprint Phenix-Editions, Ivry, ISBN 2-7458-0683-1.

Postkarte: Serai bien heureux de pouvoir vous présenter mes secrtes demain... 35 Cluny. École Nationale des Arts et Metiers - Tilleul d'Abeilard...On montre encore à l'extrémité d'une allee déserte, au pieds des murs d'enceinte flanqués de tours de l'abbaye au bord des longues prairies bordées de bois, au murmure de la rivière, au sifflement des brises dans les joncs d'un étang tari, un tilleul immens contemporain das flèches monastiques, à l'ombre duquel Abélard venait s'asseoir et rêver, le visage tourné du côté du Paraclet. Les religieux, fiers d'avoir prêté l'hospitalité de leur cloître à cette gloire du onzième siècle, s'étaient transmis cette tradition. Depuis, la révolution francaise, qui a tant emporté, a respecté ce tilleul et une ou deux flèches de la basilique; les derniers religieux ont raconté cette légende aux habitants de la ville, qui la redisent aux visiteurs. Moi-même je possède sous un tilleul de trois siècles, dans mon jardin de Saint-Point, le bance grise, sonore comme une cloche, sur lequel Abélard, d'après la tradition, s'asseyait près du tilleul de Cluny. J'y ai transporté aussi une large table de la même pièrre, sur laquelle il reposait sa tête, méditant ses hymnes ou repassant ses malheurs et ses amours...

Man zeigt noch immer am Ende einer weiten Allee, zu Füßen der von Türmen flankierten Umfassungsmauer des Klosters, am Rande weiter, baumgesäumter Wiesen, beim Plätschern des Flüsschens und beim Rauschen des Windes im Schilf eines vertrockneten Teiches, eine riesige Linde, so alt wie die Türme des Klosters, in deren Schatten Abaelard - das Gesicht zum Paraklet gewandt - einst Platz nahm und träumte. Voller Stolz, die Gastfreundschaft ihres Klosters diesem berühmten Mann des 11. Jahrhunderts gewährt zu haben, bewahrten die Mönche diese Überlieferung. Später verschonte die französische Revolution, die so vieles beseitigte, diese Linde und einen oder zwei der Türme der Basilika. Die letzten Mönche erzählten die Geschichte den Bewohnern der Stadt, und diese wiederum den Besuchern. Ich selbst besitze - zu Füßen einer dreihundertjährigen Linde in meinem Garten von Saint-Point - die graue Bank - wohlklingend wie eine Glocke - auf welcher Abaelard gemäß der Überlieferung unter der Linde von Cluny Platz nahm. Ich habe auch einen großen Tisch aus demselben Stein dorthin bringen lassen, auf welchem sein Kopf ruhte, wenn er seine Hymnen ersann oder sein Unglück oder seine Liebe an sich vorüberziehen ließ... 

A. de Lamartine - Ausschnitt eines Gemäldes von DecaisneAlphonse de Lamartine, der heute als der berühmteste Lyriker der französischen Romantik gilt, stammte aus dem Maçonnais. Er verbrachte seine Jugendjahre auf dem Landgut seiner Eltern in Milly, ehe er in den Staatsdienst trat und dort Karriere machte. Im Jahr 1819 heiratete er die reiche Engländerin Mary Ann Birch und etablierte sich mit ihr in seinem Landsitz in Saint-Point, ca. 10 Kilometer südlich von Cluny. Im Jahr 1820 veröffentlichte Lamartine seine Méditations poétiques und begründete damit nicht nur seine zweite, dichterische Karriere, sondern verhalf damit auch der französischen Romantik als Solches zum Durchbruch. Das dichterische Schaffen der kommenden Jahre hinderte ihn nicht an der Fortsetzung seiner politischen Laufbahn, die ihn als Diplomat auch mehrfach ins Ausland führte. Im Jahr 1833 wurde Lamartine schließlich Abgeordneter der Deputiertenkammer in Paris, nach der Februarrevolution 1848 übernahm er als Linkskatholik sogar vorübergehend die Leitung einer provisorischen Regierung, um zuletzt auch noch Außenminister der jungen Republik  zu werden. Als jedoch Napoleon III. nach seinem Staatsstreich 1851 das Second Empire begründete, verlor Alphonse de Lamartine, der sich großer Beliebtheit im Volk erfreute, da er sich vehement für dessen Rechte einsetzte, weitgehend seinen politischen Einfluss. In der Folgezeit widmete er sich umso mehr seinem dichterischen Werk, wozu er auch wegen des Broterwerbs genötigt war. In seinen lyrischen Stücken zeichnete sich Lamartine besonders durch die Beschreibung ländlicher Idyllen aus, denen er mit anmutiger, wenn auch etwas melancholischer Feder einen besonderen Ausdruck verlieh. Dies wurde selbst oben in dieser wahrlich kurzen Beschreibung der Linde Abaelards deutlich.

Diese Kurzbiographie Lamartines schließt mit einer kurzen Überblick über sein Gesamtwerk: 1820 Gedichtband Méditations poétiques, 1823 Nouvelles méditations poétiques, 1830 Harmonies poétiques et religieuses, 1836 Jocelyn, 1838 La chute d'un ange, 1839 Recueillements, 1857 La Vigne et la Maison. Lamartine verfasste auch etliche autobiographische, kritische und historischen Aufsätze,  Romane und Erzählungen: 1847 Histoire des Girondins, 1849 Raphaël (autobiographischer Roman), 1852 Graziella.

Schon in jungen Jahren zeigte sich der kunstsinnige Alphonse de Lamartine entsetzt über die allmähliche Zerstörung und Ausplünderung der Abtei Cluny. So schrieb er im Jahr 1808:

Ach, wie die von Hirten verlassene Herde hat man sie vertrieben vom heiligen Hort. Ich lausche vergebens, die hohen Gewölbe hallen nicht mehr vom Gesang trauriger Choräle. Alles schweigt. Da höre ich den donnernden Hieb der gottlosen Hacke, die im geschändeten Schiff die frommen Bilder der heiligen Väter zerschlägt. Ich höre die emsigen Schläge zerstörender Hämmer, die Schläge gemeiner Gesellen, die verblendete Menge, sie lästert den Namen des Herrn am heiligen Ort. Oh, haltet ein, hört auf, Ihr Unglücklichen, hier ist meine Zuflucht, hierher richte ich mein Gebet. Nehmt sie mir nicht. Zu sehr habe ich das Leben gekostet; nie mehr werde ich den bitteren Kelch der Trauer bis zur Neige leeren. Entsetzt sehe ich, was ich fliehe...

Seine Erschütterung über die Zerstörungswut seiner Landsleute hinderte Lamartine jedoch nicht daran, seinerseits einige Stücke vom Erbe Clunys zu erstehen. So erwarb er u. a. die Steinbank und den Steintisch, die einst unter der Linde Abaelards standen, oder gab diese später zumindest in romantischer Verklärung als solche aus. Charlotte Charrier schrieb hierzu 1933 in ihrer Heloïsa-Biographie Héloïse dans l'histoire et dans la légende, wobei sie Lamartine aus obiger Passage zitierte und sich auf Informationen der Schlossherrschaft von Saint-Point berief:

Alte Postkarte: Cluny - Le tilleul d'AbeilardEn 1853, un vieux tilleul est encore, à Cluny, le témoin survivant des dernières années d'Abélard, et Lamartine, dans son parc de Saint-Point, garde pieusement "le banc de pierre grise, sonore comme une cloche, sur lequel Abélard, selon la tradition, s'asseyait sous le tilleul de Cluny, et une large table de la même pierre sur laquelle il reposait sa tête, méditant ses hymnes et repassant ses malheurs et ses amours..." Ce banc et cette table existent encore dans le parc de Saint-Point, sous la même tilleul dont parle Lamartine...

Saint-Point - Ausschnitt eines Gemäldes von PernotNoch 1853 steht in Cluny eine alte Linde, lebender Zeuge der letzten Lebensjahre Abaelards, und Lamartine hütet in seinem Park von Saint-Point ehrfurchtsvoll "die Bank aus grauem Stein, wohlklingend wie eine Glocke, auf welcher Abaelard gemäß der Überlieferung unter der Linde von Cluny saß, und einen großen Tisch aus demselben Material, auf dem sein Kopf ruhte, wenn er seine Hymnen ersann oder seine Unglücke und seinen Lieben an sich vorüberziehen ließ." ... Diese Bank und dieser Tisch existieren noch heute im Park von Saint-Point, unter einer nämlichen Linde wie der, von der Lamartine sprach...

Uns ist bislang weder über den heutigen Zustand der Linde in Cluny, noch über den Verbleib des Steinmobiliars aus dem Park von Saint-Point Näheres bekannt. Wer erwartet, in folgendem Artikel des ehemaligen Chefarchivars von Hochsavoyen, Raymond Oursel, nähere Information über die Linde zu finden, wird enttäuscht. Trotz des verheißungsvollen Titels wird diese in nur einem einzigen Satz beiläufig erwähnt: Pierre Abélard au tilleul de Cluny, in: Bulletin de la Société des Amis de Cluny 10, 1956, S. 1-9.


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