Alexandre Dumas: Les mille-et-un fantômes

© Dr. Werner Robl, Juli 2003

Der bekannte französische Schriftsteller Alexandre Dumas spielt in einer kleinen satirischen Note seines Gruselromans Les mille-et-un fantômes darauf an, dass mit den sterblichen Überresten Heloïsas und Abaelards seinerzeit in Paris ein schwunghafter Handel betrieben wurde, nachdem Alexandre Lenoir im Jahr 1800 deren Gebeine, beziehungsweise das, was davon übrig geblieben war, von Nogent-sur-Seine nach Paris hatte überführen lassen.

Alexandre Dumas père kam am 24. Juli 1802 in Villers-Cotterêts im Departement Aisne zur Welt. Nachdem er in Paris in die Dienste des Herzogs von Orléans getreten war, widmete er sich dem Literatur- und Kunststudium und entdeckte seine Vorliebe für die Dramen und Abenteuerromane des 16. und 17. Jahrhunderts. Inspiriert von den englischen Vorbildern William Shakespeare und Walter Scott, begann Dumas alsbald selbst zu schreiben - mit großen Talent. Seine historischen Abenteuerromane Die drei Musketiere (1844) und Der Graf von Monte Christo (1845/46) erlangten Weltruhm. Daneben schuf Dumas als vielleicht bedeutendster Vertreter der französischen Romantik auch zahlreiche Dramen und andere Werke, von denen jedoch heute die meisten etwas in Vergessenheit geraten sind. Seine Abenteuerromane erschienen in zahlreichen Zeitschriften und Gazetten, meist als Fortsetzungsgeschichten, wobei sie ihre Lebendigkeit aus den extensiven Dialogen bezogen und aufgrund ihrer spannenden Schlüsse die Leser so in Bann schlugen, dass daraus hohe Auflagezahlen resultierten. So hob A. Dumas die Kolportage auf dem Sockel gehobener Literatur und gelangte zu immensem Reichtum. Insgesamt veröffentlichte er - unterstützt von Koautoren wie A. Maquet oder P. Lacroix, über 300 Werke. Auch im Privatleben war Alexandre Dumas eine schillernde Figur: Als sich der schriftstellerische Erfolg eingestellt hatte, pflegte er einen aufwendigen und skandalösen Lebensstil und feierte mit seinen unzähligen Freunden und Bekannten fetliche rauschende Feste. Später beteiligte er sich aber auch an der Julirevolution und erstürmte sogar zusammen mit einem Freund einen Pulverturm vor Paris. Seine zahlreichen Liebschaften versorgte rührend, indem er sie z. B. mit einer kleinen Wohnung und einer Pension bedachte. Aber auf Dauer konnte sich auch ein Alexandre Dumas seine Extravaganzen nicht mehr leisten. Als er zuletzt bankrott gegangen und völlig verarmt war, verbrachte die Jahre vor seinem Tod, der am 5. Dezember 1870 eintrat, bei seinem Sohn Alexandre Dumas fils, der ebenfalls eine Schriftstellerkarriere beschritt (Die Kameliendame, 1848).

Der Gruselroman Les Mille-et-un fantômes gehört eher zu den unbekannten Werken Alexandre Dumas' - sehr zu unrecht, wenn man sich etwas näher mit ihm befasst. Es handelt sich bei diesem Werk, welches Alexandre Dumas 1849 zusammen mit dem Koautor Paul Bocage als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitschrift Le Constitutionnel veröffentlichte, um ein lockeres und an sich zusammenhangloses Ensemble von 7 Fantasiegeschichten, die jedoch von einer Rahmenhandlung eingekleidet sind. In diesen Erzählungen, die den Mitgliedern einer Tafelrunde in den Mund gelegt sind, schöpfte Dumas nicht nur aus seiner überbordenden Imagination, sondern auch aus gelebten Biographien, z. B. der  seines Zeitgenossen und Kollegen Charles Nodier.  Wegen der feinen Auswahl der Szenerien, des erzählerischen Talents und des ausgefeilten Stils sowie der unvergleichlichen Fähigkeit, den Leser in Spannung zu halten, erscheint in diesem Roman Alexandre Dumas den berühmtesten Schriftstellern seiner Epoche durchaus ebenbürtig. Im übrigen überrascht in den Anekdoten der hintersinnige, karikierende Humor und der Sinn des Schriftstellers für Freundschaft und Treue.

Worum ging es in diesem Roman im Einzelnen? Die besagten Schreckensgeschichten werden in dem kleinen Ort Fontenay-aux-Roses aufgetischt, wohin sich Dumas begeben hatte, um zu jagen. Es handelte sich sozusagen um eine Art von Decamerone, erzählt an der Mittagtafel des Bürgermeisters Ledru. Jaquemin, ein Minenarbeiter, hatte sich am selben Morgen freiwillig gestellt und angegeben, seine Frau ermordet zu haben. Anschließend präsentierte er der eingesetzten Untersuchungskommission im Keller seines Hauses tatsächlich eine geköpfte Frauenleiche. Dumas weilte zufällig unter den Zeugen und wurde deshalb gebeten, bis zum Abschluss der Ermittlungen in Fontenay zu bleiben. So lud ihn Bürgermeister Ledru zusammen mit anderen Gästen zum Mittagsmahl ein. Ledrus Haus hatte einst dem Dichter und Dramaturgen Scarron gehört, dessen Frau Ludwig XIV. geheiratet haben soll. Zu den weiteren, sehr exzentrischen Gästen des Bürgermeisters zählte auch Aliette, ein alter Herr, der vorgab, schon einige hundert Jahre alt zu sein. Nach dem Mahl wandte sich die etwas skurrile Runde dem Tagesgespräch zu. Der Meuchelmörder Jaquemin hatte beim Verhör darauf insistiert, dass seiner  Frau, nachdem er ihr den Kopf abgeschlagen hatte, noch Lästerungen aus dem Munde gekommen seien. Der einzige Skeptiker unter den Anwesenden, ein gewisser Doktor Robert, glaubte nicht an Übersinnliches  und meinte, Jacquemins Äußerungen seinen ein ausgemachter Unfug. Aber Bürgermeister Ledru, selbst Arzt von Beruf, wiedersprach: Aufgrund persönlicher Erfahrung, die er während des Revolutionsterrors gemacht habe, wisse er, dass ein Sprechen kurz nach der Enthauptung noch möglich sei. Dieser Einspruch ist der Auftakt einer Debatte, in der die reichlich surrealistischen Essensteilnehmer, die sich nun ausnahmslos als Okkultisten zu erkennen geben, zur Untermauerung ihrer Argumente Grusel- und Horrorschichten zum Besten geben. Zuvor kommt jedoch Bürgermeister Ledru noch auf ein paar berühmte Reliquien der romantischen Epoche zu sprechen. Es handelt sich um Königsreliquien und - um die Schneidezähne von Heloïsa und Abaelard...

Alexandre Dumas: Les mille-et-un fantômes, chapître IV, la maison de Scarron:

- Tenez, me dit-il, voilà encore pour vous, l'homme historique, quelque chose de plus curieux que la carte de Tendre. C'est une collection de reliques, non pas de saints, mais de rois.

En effet, chaque papier enveloppait un os, des cheveux ou de la barbe. Il y avait une rotule de Charles IX, le pouce de François Ier, un fragment du crâne de Louis XIV, une côte de Henri II, une vertèbre de Louis XV, de la barbe de Henri IV et des cheveux de Louis XIII. Chaque roi avait fourni son échantillon, et de tous ces os on eût pu recomposer à peu de chose près un squelette qui eût parfaitement représenté celui de la monarchie française, auquel depuis longtemps manquent les ossements principaux.

Il y avait en outre une dent d'Abeilard et une dent d'Héloïse, deux blanches incisives, qui, du temps où elles étaient recouvertes par leurs lèvres frémissantes, s'étaient peut-être rencontrées dans un baiser.

D'où venait cet ossuaire? Monsieur Ledru avait présidé à l'exhumation des rois à Saint-Denis et il avait pris dans chaque tombeau ce qui lui avait plu. Monsieur Ledru me donna quelques instants pour satisfaire ma curiosité; puis, voyant que j'avais à peu près passé en revue toutes ses étiquettes:

- Allons, me dit-il, c'est assez nous occuper des morts, passons un peu aux vivants...

Hier habe ich für Sie als geschichtsbewussten Menschen, sagte Herr Ledru, noch etwas Seltsameres als die Karte von Tendre. Es handelte sich um eine Sammlung von Reliquien, nicht von Heiligen, sondern von Königen.

Und in der Tat entfaltete sich nun aus jedem Einschlagspapier ein Knochen oder Haare von Kopf und Bart. Es gab da eine Kniescheibe Karls IX., den Daumen Franz' I., ein Schädelfragment Ludwigs XIV., eine Rippe Heinrichs II., einen Wirbel Ludwigs XV., Barthaare Heinrichs IV. und Haupthaare Ludwigs XIII. Jeder König hatte eine Kostprobe zur Verfügung gestellt, und von all diesen Knochen hätte man fast ein Skelett zusammensetzen können, welches perfekt die französische Monarchie dargestellt hätte, der ja auch schon seit langem die wichtigsten Gebeine fehlen.

Außerdem gab es noch einen Zahn von Abaelard und einen weiteren von Heloïsa, zwei weiße Schneidezähne, die sich vielleicht zu der Zeit, als sie noch von zitternden Lippen bedeckt waren, schon einmal zu einem Kuss getroffen hatten.

Woher kam dieses Ossuarium? Herr Ledru hatte die Exhumierung der Könige in Saint-Denis geleitet und sich aus jedem Grab entnommen, was ihm gefiel. Herr Ledru gestattete mir einige Augenblicke, mich an den Kuriositäten satt zu sehen. Dann, als er sah, dass ich schon fast alle Etiketten durchgesehen hatte, meinte er:

Wir haben uns genug mit den Toten beschäftigt, halten wir uns nun ein wenig mit den Lebenden auf...

Wir wollen an dieser Stelle verschweigen, mit welcher Pointe Alexandre Dumas Bürgermeister Ledrus Geschichte zu Ende gehen ließ. Ebenso wenig wollen wir vorwegnahmen, worauf die weiteren Geschichten der anwesenden Okkultisten in der Quintessenz abzielten. Immerhin sei verraten dass sich der Bogen weit spannte, von Frankreich bis in die Schweiz, nach Schottland und in die Karpaten, und von der Schändung der Königsgräber in Saint-Denis bis hin zu übernatürlichen Wesen, Geistern, Vampiren und Dämonen. Doch damit sei genug verraten. Demjenigen, der mehr wissen möchte, mag selbst nachlesen.

Alexandre Dumas hatte übrigens an der besagten Stelle seines Romans versteckte Kritik an einem allbekannten Zeitgenossen geübt: Baron Dominique Vivant Denon, 1747-1825, hatte sich, nachdem er ab 1804  als Generalinspektor der Museen in Paris und Direktor des Louvre für das nationale Kulturgut verantwortlich war, schamlos bedient und Trophäen der geschilderten Art bei sich zuhause gehortet. Sein Reliquiar soll u. a. folgende Kostbarkeiten aufgewiesen haben:

Doch Baron Denon war beileibe nicht der einzige, der sich damals brüstete, Überreste Heloïsas und Abaelards zu besitzen: Selbst die berühmte George Sand, 1804-1876, soll einen Zahn Heloïsas besessen und auf ihrem Landsitz in Nohant aufbewahrt haben, und ein Teil der "Reliquien" soll einer anderen Quelle nach später sogar bis nach Hanoi, Vietnam, gegangen sein.


[Zurück zur letzten Seite] [Zum Seitenanfang]