Anonymus aus Fleury: Gedicht über Heloïsa und Abaelard

© Dr. Werner Robl, März 2001, aktualisiert Dezember 2011, nach Hinweisen von Dr. Kurt Kreiler

Herkunft

Im Jahre 1880 veröffentlichte der Gelehrte Ch. Cuissard bis dato unbekannte Dokumente über Abaelard, die er in der Manuskriptsammlung des Klosters Fleury in Saint-Benoît an der Loire identifiziert hatte. Die Manuskripte aus Fleury waren nach der französischen Revolution an die Stadtbibliothek Orléans gefallen. Dort fand sich neben Schriften der Logik (z.B. Positio vocum sententiae), die vermutlich von Abaelard persönlich stammten und über Saint-Germain-des-Prés nach Fleury gelangt waren (MS Orléans, Bibl. Mun. 266, 276-278), auf einem vergilbten Pergamentblatt - mit einem Faden an eine Abhandlung über medizinische und theologische Fragen angeheftet - das folgende titellose Gedicht (heute MS 284, XII/XIII, folio 183f.), eigentlich bestehend aus zwei in einander verschränkten Gedichtanteilen. Es war einst von einem namentlich unbekannten Mönch der Abtei Fleury von einem älteren Original kopiert worden. Der Kopist hatte wenig sorgfältig gearbeitet. Sein Text weist zahlreiche Schreibfehler und Lücken auf. Das Dokument zeigte einen schlechten Erhaltungszustand. M. Cuissard hatte offensichtlich erhebliche Probleme bei der Entzifferung des Wortlautes, denn seine Erstedition von 1880 enthielt wiederum zahlreiche Transskriptionsfehler, welche P. Dronke im Jahre 1976 in einer kritischen Wertung des Gedichtes zu eliminieren versuchte. Die folgende Version lehnt sich an diese neuere, stark verbesserte Edition Dronkes an.

Es ist unschwer zu erkennen, dass der unbekannte Erstautor in den Anfangsteil seines Gedichtes Ausschnitte aus der später europaweit verbreiteten Hymne "Cur mundus militat" hineinverwoben hat. Es dürfte sich hier um die älteste Zitation dieser den bekannten Contemptus-Mundi-Topos aufgreifenden Hymne handeln, welche somit weder dem Jakopone da Todi noch Walter Map zuzuschreiben ist, wahrscheinlich auch nicht - wie von Mabillon erstmals in den Raum gestellt - Bernhard von Clairvaux. Vermutlich handelt es sich bei dem "Cur mundus militat" um ein Werk aus den Loireschulen des 12. Jahrhunderts, vielleicht aus Fleury selbst.  

Text - zur Linken das "Cur mundus militat" zum Vergleich - zur Rechten eine deutsche Rohübersetzung


  Celum terra, cahos-distincgtio trina locorum
Excipiunt animas pro iudiciis meritorum

Himmel, Erde und das Chaos – die Trennung in drei Gefilde.
Sie empfangen die Seelen nach dem Richterspruch über ihre Verdienste.

Cur mundus militat, sub vana gloria,
cuius prosperitas, est transitoria?
Tam cito labitur, eius potentia,
quam vasa figuli, quae sunt fragilia.
Plus crede literis, scriptis in glacie
quam mundi fragilis, vanae fallaciae.
Fallax in praemiis, virtutis specie
qui nunquam habuit, tempus fiduciae.
Mundus deciduus et homo fragilis,
Totus in dubio totus instabilis,
Tam cito labitur ut aqua est labilis,
Plus crede litteris scriptis in glacie
Quam mundi fragilis vane fallacie
Qui nichil habuit unquam fiducie.

Die Welt ist vergänglich und der Mensch zerbrechlich,
Völlig im Zweifel ist er und völlig ohne Halt,
So schnell wie das schlüpfrige Wasser gleitet er dahin.
Vertraue eher Buchstaben, die ins Eis geschnitten sind,
Als dem eitlen Trug einer zerbrechlichen Welt,
Die nichts Vertrauensvolles je besessen hat.

Magis credendum est vitris fallacibus
quam mundi miseris prosperitatibus,
Falsis insomniis ac vanitatibus
falsisque studiis ac voluptatibus.
Dic ubi Salomon olim tam nobilis?
vel ubi Samson est, dux invincibilis?
Vel dulcis Jonathas multum amabilis?
vel pulcher Absolon vultu mirabilis?
Credendum est magis auris fallacibus.
Quam mundi miseri prosperitatibus,
Falsis insaniis ac vanitatibus.
Dic ubi Salomon olim tam nobilis,
Vel pulger Absalon vultu mirabilis,
Vel dulcis Ionathas multum amabilis?

Mehr kann man dem täuschenden Windhauch vertrauen,
Als den Glücksfällen der armseligen Welt und
Ihrem falschen Wahnsinn und ihren Nichtigkeiten.
Sage, wo der einst so hehre Salomon geblieben ist,
Oder der schöne Absalon mit seinem herrlichen Antlitz,
Oder der angenehme, vielgeliebte Jonathas.

Quo Caesar abiit celsus imperio,
vel dives splendidus totus in prandio,
Dic ubi Tullius clarus eloquio,
vel Aristoteles summus ingenio.
Quo Cesar habiit celsus imperio,
Dic ubi Tullius clarus eloquio,
Vel dives splendidus totus in prandio?
Tot clari proceres tot retro secula!
Totum evanuit ut ros, ut nebula,
Ut breve teatrum, ut brevis fabula.

Wohin ist Cäsar gegangen, der mächtige und erhabene,
Sag mir, wo ist der glänzende Redner Cicero?
Wo ist der stolze Reiche am gedeckten Tisch?
So viele berühmte Häupter, so viele Zeitalter liegen zurück!
Alles ist entschwunden wie der Morgentau und die Nebel,
Wie ein kurzes Theaterstück, eine kleine Geschichte.

O esca vermium, o masa pulveris,
o nox, o vanitas, cur sic extolleris?
Ignoras penitus utrum cras vixeris?
Fac bonum omnibus quamdiu poteris.
Quam breve festum est, haec mundi gloria,
ut umbra hominis, sunt eius gaudia,
Quae semper subtrahunt aeterna praemia,
et ducunt hominem, ad rura devia.
Ut breve festum sunt eius gaudia
Que tamen suptrahunt eterna premia.
Ut breve somnium hoc mundi gloria,
Que esca vermium o masa pulveris.
0 ros o vanitas, cur sic extolleris?
Ignoras etiam utrum cras vixeris.

Die Freuden der Welt sind wie ein kurzes Fest,
Welche doch den Lohn der Ewigkeit uns nehmen.
Wie ein kurzer Traum ist dieser Ruhm der Welt,
Köder für die Würmer, ein Klumpen Staub.
Oh Morgentau, oh Eitelkeit, warum brüstest du dich?
Du weißt ja nicht einmal, ob du morgen noch bestehst.

Haec mundi gloria, quae magni penditur,
sacris in literis, flos foeni dicitur.
Ut leve folium, quod vento rapitur
sic vita hominis rapide tollitur.
Hec carnis gloria que magni paenditur
In sacris literis flos feni dicitur,
Ut breve folium quod vento rapitur.
Nil tuum dixeris quod potes perdere
Nil longum poteris quod fores claudere
Superna cogita cor sit in etere.

Felix qui potuit summa diligere.

Dieser Fleischesruhm, der so viel gilt,
Wird in den heiligen Schriften Heublume genannt,
Wie ein kleines Blatt, das der Wind hinweg trägt.
Nenne nichts dein, was du verderben kannst,
Nenne nichts weit, was Türen versperren können.
Denke an den Himmel, dein Herz weile im Jenseits.

Glücklich, wer das höchste Gut lieben kann.
Parisius Petrus est velata matre profectus.
Necnon velata crudelis amica redibit
Sponte parens invita quidem velatur amica,
Conveniens erat hoc anui que corpore friget
Damnosum tenere minus or(r)endeque puelle
Quam facies multis, que philosophia puellis
Pretulerat cunctis qua sola Gallia pollet.

Nach Paris brach Peter auf, nach der Mutter Konversion.
Wenn der Grausame zurück ist, ist seine Freundin ebenso verschleiert.
Freiwillig nimmt die Mutter den Schleier, unwillig die Freundin.
War dies passend für die alte Frau, deren Körper erkaltet war,
So war dies schädlich für das zarte und weniger ehrwürdige Mädchen,
Sie, die das Aussehen über viele, die Weisheit über alle Mädchen
Gestellt hatte, sie, durch die allein Gallien etwas wert war.

Deseruisse tamen tulit hanc crudelis amicus
Siquis non quod amet, sed ametur dicat "amicus":
Desertam ius(s)it velari. Paruit illa,
Nec quid amor possit non implevisse marito.

Dennoch hat der grausame Freund es ertragen, sie verlassen zu haben.
Wenn ihn jemand deshalb "Freund" nennt, nur weil er geliebt wird, nicht weil er liebt.
Er hat sie verlassen und und ihr befohlen, den Schleier zu nehmen, und jene hat gehorcht,
Weil sie dem Gatten nicht unerfüllt sein lassen wollte, wozu Liebe im Stande ist.

Ornavere due te quondam, Gallia, gemme:
Mathias consul philosophusque Petrus.
Militio decus hic, cleri lux extitit iste.
Plaga tibi gemmas abstulit una duas,
Invida sors summos privat genitalibus ambo.

Zwei Juwelen, Gallien, haben dich einst geschmückt:
Mathias, der Konsul, und Peter, der Philosoph.
Der erste war ruhmvoller Soldat, der zweite eine Leuchte des Klerus.
Dennoch hat dir ein einziger Streich die beiden Juwelen weggenommen.
Das missgünstige Schicksal hat beiden die Genitalien geraubt.

Dispar causa pares vulnere fecit eos,
Consul adulterii damnatur crimine justo,
Philo(so)phus summa prodicione ruit.
Philo(so)phum monachis adiuncsit plaga pudenda
Et studium dempsit, philosophia, tibi.

Ein ungleicher Anlass hat sie durch die Art der Wunde gleich gestellt.
Der Graf wurde mit Recht wegen Ehebruchs dem Urteil überstellt.
Der Philosoph stürzte durch höchsten Verrat.
Der schändliche Streich trieb den Philosophen zu den Mönchen.
Und hat dir, Philosophie, den wissenschaftlichen Eifer genommen.

Adam, Samsonem, Salomonem perdidit uxor.
Additus est Petrus - clade ruit simili,
Publica summorum cladis fuit ista virorum.
.............................

Den Adam, Samson und Salomon stürzte die Gattin ins Verderben.
Peter kam dazu - er stürzte durch ähnliche Schmach.
Ein öffentlicher Skandal brachte die höchsten Männer zu Fall.
.............................

Sola tamen Petri conjux est criminis expers.
Consensus nullus qui facit esse ream.

Allein Peters Gattin ist frei von jedem Vorwurf.
Sie ist unschuldig, denn sie hat in keiner Weise zugestimmt.

Tres ex condicto dixere ruamus in unum
Et triplici captum fune ligemus unum.

Drei (Schurken) haben sich verabredet: Stürzen wir auf den einen,
Packen wir ihn und schnüren wir ihn mit dreifacher Schlinge.

Aut me cecatum furor excusabit amoris,
Aut reus immense prodicionis ero,
Omnia preter te michi tradidit hospes supellex
Nil volo preter te nec Ioseph alter ero!

Entweder wird mich Blinden die Liebeswut entschuldigen,
Oder ich werde eines ungeheuerlichen Verrats angeklagt werden.
Allen Hausrat außer dich hat mir der Hausherr gegeben,
Nichts außer dich begehre ich, ich werde kein zweiter Josef sein.

Rem monachi Roberti tenes, si nomen aborres.
Aut vero gaudes nomine canonici?
Orret, ni fallor, tibi, frater, sola cuculla.

Du bist wie der Mönch Robert, wenn Du diese Bezeichnung verabscheust.
Oder freut dich mehr der Name "Kanoniker"?
Allein die Kukulle schreckt dich, Bruder, wenn ich mich nicht täusche.

Ut caput inspicerem tocius religionis
Romam perexi cumque videre Petrum.
Obtarem, si modo catedram jam alter habebat.

Um die Hauptstadt unserer Religion zu betrachten,
Und Petrus zu sehen, bin ich nach Rom aufgebrochen.
Ich wünschte, den Petrusstuhl hätte ein anderer inne.

Scortator monachus justus reputatur apud nos,
Quod Sodomitarum copia multa facit.

Als Lüstling wird bei uns der gerechte Mönch angesehen,
Was die Unmenge an Sodomiten bewirkt.

Si tibi non esset mundi contenptus habendus,
Petre, quid es monachus, es, quia philosophus.
Constat philosophos hoc contenpsisse priores,
Quod prius ammonuit ipsa Sophia suos.

Wenn du nicht Weltverachtung zeigen müsstest,
Petrus, was bist Du Mönch? Du bist es, weil Du ein Philosoph bist.
Bekanntlich haben auch die früheren Philosophen dies verachtet.
Was vorher die Philosophie selbst den Ihren aufgetragen hat.

Nec catus in nitida servari pelle valebit
Nec mulier cultus si preciosus erit.
Saepe, soror, rogo te, preciosas spernere vestes
Quas cui nupsisti non amat, imo vetat.
Verus hic est agnus, agninas appete vestes,
Ut sponsum vestis exprimat ipsa suum.
Indutam Christum te monstret vestis amica.
Agnus hic est, agni pellibus indue te.
Arha Dei virgo est celesti dedita sponso,
Texta minus caris est pellibus arca fuit,
Scilicet his que protegerent non que decorarent,
Que pacientes sint pulveris et pluvie.

Ein junger Hund kann nicht immer sein glänzendes Fell behalten.
Auch eine gepflegte Frau wird nicht immer so wertvoll sein.
Schwester, oft bitte ich dich, wertvolle Kleider zu verschmähen,
Die der, den du geheiratet hast, nicht liebt, ja sogar verbietet.
Dies ist das wahre Lamm, so begehre Kleidung aus Lammfell,
Wie gerade dieses Kleid den Bräutigam beschreibt.
Dass du Christus selbst am Leib trägst, soll dir das Kleid, Freundin, zeigen.
Das Lamm ist hier - ziehe dir Lammfell über!
Der Altar Gottes ist die Jungfrau, die dem himmlischen Bräutigam geweiht ist.
Die Arche war mit weniger teuren Fellen bedeckt,
Freilich mehr zum Schutz als zur Zierde dienten sie,
Die sie geduldig Staub und Regen aushielten.


 

Kurzinterpretation


Im ersten Abschnitt - einem wehmütigen Prolog über die Vergänglichkeit der Welt - finden sich zwölfsilbige Zeilen, von denen sich je drei aufeinander folgende in der Endsilbe reimen. Diesem Abschnitt liegt, wie bereits oben ausgeführt, die Hymne "Cur mundus militat" zu Grunde. Besonders originell ist die Verschränkung der Gedichtanteile, indem der Autor das "hec mundi gloria" der Hymne in ein individualisiertes "hec carnis gloria", bezogen auf Peter Abaelard, umwandelt.

Der nachfolgende zweite Abschnitt des Gedichts schildert nun in Hexametern Heloïsas Schicksal und Abaelards Fall. Da der Autor einzelne Informationen aus Abaelards Historia Calamitatum und Heloïsas Antwortbrief einfließen ließ, dürfte er diese Werke gut gekannt haben. Insbesondere fällt die Wortwahl amica für Heloïsa auf. Dies war exakt die Bezeichnung, die sie sich selbst gewünscht hatte:

Et si uxoris nomen sanctius ac validius videretur, dulcius mihi semper extitit amice vocabulum aut, si non indigneris, concubine vel scorti - Auch wenn die Bezeichnung "Gattin" heiliger und gültiger erschien, so erwies sich mir das Wort "Freundin " oder - bitte erschrecke nicht - Konkubine oder Dirne immer als süßer.       Brief II, Heloisa an Abaelard
Darüber hinaus verfügte der Verfasser des Gedichtes auch über Informationen, die nicht Abaelards Schriften zu entnehmen waren. So zürnte er - ganz in Abweichung zu Abaelards eigener Darstellung - darüber, dass Heloïsa keineswegs freiwillig ins Kloster gegangen war. Er dementierte damit Abaelards eigene  Aussage und schrieb den freiwilligen Klostereintritt nur dessen Mutter Lucia zu, bestätigte aber Abaelards Befehlston Heloïsa gegenüber:
Ad imperium nostrum sponte velata - Sie nahm auf mein Geheiß, aber aus freien Stücken, den Schleier.       Abaelard, Historia Calamitatum
Außerdem zeigte sich der Dichter mit den politischen Verhältnissen in der Bretagne vertraut. So spricht er zum Beispiel von einem consul Matthias, der gleichermaßen wie Abaelard durch Kastration bestraft worden sei. Consul war der zur damaligen Zeit übliche Ehrentitel der Grafen. Es besteht wenig Zweifel daran, dass es sich bei besagtem consul Matthias, der obendrein als hoch stehende Persönlichkeit bezeichnet wurde, um Matthias, den vormaligen Grafen von Nantes, handelte. Er war der Sohn Herzog Hoëls der Bretagne und jüngerer Bruder des späteren Herzogs Alan Fergent. Bis zu seinem gewaltsamen Tode im Jahre 1101 (nach einigen Quellen 1103/1104) war er der Lehensherr des Gutes Le Pallet, das in Besitz von Abaelards Familie stand. In Nantes teilte er sich die Macht mit dem dortigen Bischof Benedikt, einem leiblichen Onkel. Es muss wohl zu einem ernsthaften Zerwürfnis gekommen sein, denn nach dem Chronicon Britannicum ließ er durch seine Barone kurz vor seinem Tode den cimiterium, der im Besitz des Kapitels und des Bischofs von Nantes stand, schänden und plündern. Von Ehebruch und Kastration ist in der diesbezüglichen Quelle allerdings nicht die Rede. Trotzdem kann man nicht ausschließen, dass diese Talionsrache ihm die letztlich tödliche Verwundung beibrachte:
MCI. Matthias Nannetensis Consul, Hoelis filius, moritur.       Ex Chronico Briocensi, in Recueil des Historiens des Gaules et de la France XII, Paris, 1877, Seite 566

MCIII. Mathias Comes Nannetensis moritur.       Ex Chronico Rhyuensi, in Lobineau, D. Histoire de Bretagne, Band II, Paris, 1707, Reprint Paris, 1973, Seite 370

MCIII. Matthias Nannetensis Consul, Hoelis filius, moritur.       Ex Chronico Kemperlegiensis, Monasterii Sanctae crucis, in Recueil des Historiens des Gaules et de la France XII, Paris, 1877, Seite 562

MCIV: Obiit Matthias Nannetensis, Hoeli Comitis (Cornugalliae) filius. Hic vero eodem anno cimiterium beatorum Petri et Pauli violare, consilio suorum Baronum, praesumpserat, res canonicorum Nannetensis ecclesiae iniuste diripiendo. Unde manifestissime apparet divina ultione ipsum suosque coadiutores ipso anno morti esse datos.       Ex Chronico Britannico Altero, a.a.O., Seite 559

Nach diesem Exkurs folgen in dem Gedicht aus Fleury einige fragmentarische Verse, die P. Dronke und nach ihm C. Mews zur Einschätzung veranlassten, es handle sich bei dem Manuskript um kein geschlossenes Werk, sondern um Auszüge aus verschiedenen Gedichten. Doch dieser Ansicht wollen wir uns nicht anschließen, wie im Folgenden zu begründen sein wird:

So ist zum Beispiel in einem Absatz - zunächst etwas unverständlich - die Rede von drei Schurken, die sich auf "den einen" stürzen und ihn mit einem Strick strangulieren. Bei näherer Betrachtung handelt es sich recht eindeutig um die Durchführung einer Kastration, wie sie zur damaligen Zeit gehandhabt wurde: Mit einem dünnen Strick wurden die Testikeln abgeschnürt, damit Blutleere und Betäubung eintraten. Anschließend durchtrennte man - ohne großen Blutverlust oder Schmerz für den Betroffenen - am Schnürring mit einem Messerschlag beide Hoden ab, unter Belassung des Knotens und unter Schonung des Penis und der Harnröhre. Die betreffende Passage schweift also in keiner Weise von der Thematik ab. Auch wenn es dem Wortlaut nicht zu entnehmen ist, dürfte im Hinblick auf die Durchgängigkeit der Darstellung eher die Kastration Abaelards - und nicht die des Grafen Matthias, der ja nur eine literarische Nebenrolle spielt - geschildert sein. Dabei ist besonders interessant, dass von drei Bösewichten die Rede ist, die das Attentat ausführten. Abaelard selbst hatte in seiner Autobiographie die Zahl der Täter offengelassen, jedoch davon berichtet, dass zwei von ihnen gefasst worden waren:

Quibus mox in fugam conversis, duo qui comprehendi potuerunt oculis et genitalibus privati sunt, quorum alter ille fuit supradictus serviens... - Sie wandten sich zur Flucht. Zwei von ihnen wurden ergriffen. Ihnen wurden die Augen ausgestochen und die Hoden abgeschnitten. Einer davon war jener bereits oben erwähnte Diener...      Abaelard, Historia Calamitatum
Weiter unten ist die Rede davon, dass Abaelard wie ein gewisser Robert die Bezeichnung Mönch verabscheut habe. Der Name Robert muss im Originalmanuskript unleserlich gewesen sein. Ch. Cuissard hatte - offensichtlich im Zweifel über die Bedeutung - in seiner Edition die Passage ganz ausgelassen, P. Dronke später einen Vokativ - Roberte - eingefügt. Dies gab C. Mews den Anlass, von einem Zwiegespräch zwischen einem unbekannten Mönch namens Robert und einer Nonne auszugehen, welche sich über Heloïsas und Abaelards Schicksal unterhielten. Wir schließen uns auch dieser Deutung nicht an, sondern bieten eine plausiblere Erklärung an. Vermutlich handelte es sich bei der Namensangabe  um einen Genitiv: Roberti.
Rem monachi Roberti tenes, si nomen aborres. Aut vero gaudes nomine canonici? Orret, ni fallor, tibi, frater, sola cuculla... - Du verhältst Dich wie  Robert, der Mönch, wenn Du diese Bezeichnung verabscheust. Oder freut dich mehr der Name Kanoniker? Allein die Kukulle schreckt dich, Bruder, wenn ich mich nicht täusche.       Gedicht aus Fleury
Demzufolge hätte Abaelard wie ein gewisser Robert das Mönchtum abgelehnt. Zweifelsohne wurde hier der Wanderprediger Robert von Arbrissel beschrieben, welcher nachweislich wie Abaelard die Bezeichnung Mönch oder Abt abgelehnt oder vermieden hatte. 
Nam neque dominus, neque abbas vocitari volebat... - Denn er wollte weder Herr noch Abt genannt werden...       Balderich von Bourgeuil, vita Roberti, in: PL Band 162, Spalte 1052
So war in dem von ihm mitbegründeten Männerkonvent Saint-Jean-l'Habit in Fontevraud den Quellen nach nie von Mönchen die Rede. Das ebenfalls von ihm gegründete Stift von La Roë war ein Regularkanonikerstift, kein Mönchskloster. Dass zwischen Robert von Arbrissel und Abaelard Verbindungen bestanden haben, die sich wahrscheinlich durch eine verwandtschaftliche Beziehung ihrer weiblichen Partner begründete, konnten wir bereits an anderer Stelle nachweisen. Siehe: W. Robl, Heloisas Herkunft: Hersindis Mater, München 2001.

Eine weitere Information, nämlich dass nach der Kastration eine Appellation beim amtierenden Papst geplant gewesen sei, welcher sich jedoch leider als verderbt herausgestellt hatte, entspricht ebenfalls recht eindeutig der Situation Abaelards. Fulko, der Prior von Deuil, der aus Abaelards Heimat, dem Kloster Saint-Florent-le-Vieil an der Loire stammte, hat uns hierüber berichtet. Von ihm stammte auch der dringende Rat an Abaelard, auf eine derartige Appellation zu verzichten.

Ein dritter, nunmehr wieder in sich geschlossener und kurzer Abschnitt rundet das Gedicht ab. Er enthält eine Mahnung an Heloïsa, sich mit dem Schicksal der Nonne abzufinden. Die admonitio wird durch ein Sprichwort eingeleitet, welches sich nahezu wörtlich in Abaelards Mahngedicht an seinen Sohn, dem carmen ad Astralabium, aber auch in einigen anderen zeitgenössischen Werken fand:

Nec catus in nitida servari pelle valebit, nec mulier cultus si preciosus erit.       Gedicht aus Fleury

Nec catus poterit servari pelle nitente, nec mulier cultus si preciosus erit.       Rubingh-Bosscher (ed), Peter Abelard, Carmen ad Astralabium, Groningen, 1987, Vers 665, Seite 143

Die abschließende Aufforderung, Kleider aus Lammfell geduldig als Zeichen der Verlobung mit Christus, dem Lamm, zu tragen, ist im Präsens formuliert und richtet sich direkt an Heloïsa. Wegen der gewählten Zeitform nahm P. Dronke an, dass das Gedicht deshalb auf jeden Fall zu Lebzeiten Heloïsas entstanden sein müsse, also vor 1164. Die Beschreibung von Lammfellen als Wintergewand der Nonnen findet sich erneut nahezu wörtlich in Abaelards Regel für die Nonnen des Paraklet:
Nec adeo sponsis Christi pelles aliquae conveniunt, sicut agninae, ut ipso quoque habitu Agnum sponsum virginum indutae videantur vel induere moneantur... - Kein Pelzwerk kleidet die Bräute Christi besser als das der Lämmer: So zeigen sie schon durch ihr Gewand, dass sie das Lamm, das den Jungfrauen verlobt ist, angezogen haben oder anziehen sollten.       Abaelard, Nonnenregel, Brief 8, in PL Band 178 Spalte 301

Abschließende Bewertung


Alles in allem zeigte sich der Verfasser des Gedichtes nicht nur exzellent über diverse Schriften und Angaben Abaelards und Heloïsas informiert, sondern verfügte über weitere, erstaunliche Detailkenntnisse - z.B. zum Innenverhältnis des Paares und zur Familie und Herkunft Abaelards. Diese Details können nur in einem nahen zeitlichen Abstand zu den Ereignissen erworben und in dem Gedicht einer Leserschaft sinnvoll weitervermittelt worden sein. Der Verfasser war somit recht eindeutig ein Zeitgenosse des Paares. Die Abfassung des Werkes wird wohl in der Zeit nach dem Briefwechsel Heloïsas und Abaelards, d.h. ungefähr nach 1135, aber noch vor Heloïsas Tod, also vor 1164, stattgefunden haben. Eine noch spätere Abfassung ist aufgrund einiger Angaben - z.B. der Kastration des Grafen Matthias, die ja schon etwa ein halbes Jahrhundert zurücklag - nicht anzunehmen. Wenngleich der literarische Wert des Werkes - abgesehen von den Passagen des "Cur mundus militat" - nicht als besonders hoch einzuschätzen ist, so handelt es sich dennoch um eine äußerst wertvolle Quelle, welche die Authentizität der Lebensgeschichte des Paares sichert. Sie belegt, dass die Tragik des Falles Abaelard schon zu Lebzeiten des Paares erkannt, reflektiert und literarisch verarbeitet wurde. Einzelne, inkohärente Passagen im zweiten Abschnitt zeigen, dass das Gedicht nur bruchstückhaft erhalten geblieben ist. Dennoch beziehen sich sämtliche Abschnitte eindeutig auf das Schicksal Abaelards und Heloïsas. Deshalb kann u. E. an der Homogenität und Geschlossenheit der verlorenen literarischen Vorlage kein Zweifel bestehen.
 

Verwendete Quellen


Cuissard, M. Ch., Documents inédits sur Abélard, tirés des manuscrits de Fleury, conservés à la Bibliothèque Publique d'Orléans, Orléans, 1880

Dronke, P., Abelard and Heloise in Medieval Testimonies, Glasgow, 1976, und: Dronke, Benton, Pelletin, Abaelardiana, AHDLMA 49, 1982, 273ff.

Delisle, L. (nouv. éd.), Recueil des historiens des Gaules et de la france XII, Paris, 1877 

Hicks, E., La vie et les epistres Pierres Abaelart et Heloys sa fame, Paris, 1991

Mews, C., Abelard, in: Geary, P., Authors of the Middle Ages, Aldershot, 1995, Seite 1ff. und: The Lost Love Letters of Abaelard and Heloise, New York, 1999

Migne, J. P., Patrologia Latina, Paris, 1855, Band 162 und 178

Robl, W., Heloisas Herkunft: Hersindis Mater, München 2001

Rubingh-Bosscher (ed), Peter Abelard, Carmen ad Astralabium, Groningen, 1987, Vers 665, Seite 143

Dr. Kurt Kreiler, persönliche Mitteilung Dezember 2011


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